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Eine sizilianische Affäre

Nachdem die Hinfahrt mit dem Bus von Catania nach Palermo nicht nur unbequem und wenig Bandscheiben schonend war, beschlossen wir bei der Rückfahrt zum Flughafen Catania den Regionalzug zu nehmen. Diese Zugfahrt dauerte zwar eine halbe Stunde länger als noch einmal immer wieder mit Schrecken die riskanten Überholmanöver des Busses mit großen LkW´s selbst in engen Tunnels zu überstehen. Das hatte weniger mit irgendeiner aktueller Angst als mit den pragmatischen Überlegungen zu tun, sich nicht unbedingt 2 1/2 Stunden lang einem möglichen Crash auszusetzen. Die Autolenker in Sizilien fahren zwar wie die Hasardeure, aber nach einer gewissen Gewöhnungsphase konnte relativ beruhigt sein, dass selbst der chaotischste Verkehr irgendwie ohne Störungen ablief. In Deutschland, dem Land der Rasen, ist das kaum vorzustellen. Sie fahren in Sizilien sicherlich riskant, aber immer hart an der Grenze des Möglichen oder Erlaubten und offensichtlich mit einer Reaktionsverinnerlichung, die seinesgleichen sucht. Dicht an dicht, haarscharf nebeneinander, immer mit Bremse und Gas und schlingernden Lenkradbewegungen.

Die Fassade der Zentralstation in Palermo macht zwar einiges her, aber im Prinzip würde man sagen, dass es ein relativ kleiner Bahnhof ist, wenn man das Gebäude einmal betreten hatte. das liegt auch daran, dass es in Sizilien wenige Bahnverbindungen gibt, es existiert kein ausgebautes Schienennetz und schon gar keine Express- oder D-Züge. Von Palermo kann man nach Messina, nach Catania oder nach Trapani/Marsala fahren, diese Städte sind wiederum mit untergeordneten Strecken zu anderen Städten verbunden. Im übrigen sind die Strecken eingleisig.

Sechs mal am Tag fahren Züge zwischen den beiden größten Städten Palermo und Catania. Die Strecke ist nicht elektrifiziert und die Züge verfügen über nur wenige Wagons. Mit der Diesellok vornweg geht es entlang der Küste, manchmal fährt der Zug nur etwa 100 Meter parallel zum Ufer des Mittelmeeres durch kleine Siedlungen, verlassene Häuser oder stillgelegte Industrieanlagen. zwischendurch  passiert er einen Badeort und biegt schließlich bei Termini Imerese südlich Richtung Inselmitte ab. Zunächst fährt man durch ein breites, fruchtbares, landwirtschaftlich genutztes Tal mit Orangen- oder Mandarinenplantagen, Kartoffelfelder, Mandelbaumhaine oder durch aneinander gereihte Kakteenzüchtungen, um dann allmählich in die Berge zu gelangen. Die intensiv betriebene Landwirtschaft hört auf, Felder und Wiesen, Weiden und kleine Wälder bestimmen das Bild. Die kleinen Bahnwärterhäuschen an der Strecke sind sämtlich verlassen und verfallen und jeder zweite, einsam gelegene Hof scheint preisgegeben worden zu sein. Hin und wieder ziehen weidende Rinder- oder Schafherden entlang der Schienenstrecke und es ergibt sich ein Bild einer menschenleeren, sich selbst überlassenen Landschaft, obwohl die Wiesen saftig grün sind vereinzelt gefurchte Ackerflächen zu sehen sind und hier so vieles wachsen und gedeihen könnte. Sprießende Kornfelder, noch klein und grün, schmiegen sich selten zwischen die großflächigen Weiden, die das gesamte Bild bestimmen. Die landschaftliche Formung ist noch sanft hügelig, manchmal ragen dazwischen Felsen empor und in der Ferne zeigt sich schon das nahende Gebirge. Nach einundeinhalb Stunden erreichen wir die erste Bahnstation: Caltanisetta. Viele steigen aus. Nun befinden wir uns schon recht hoch in den Bergen, aber es geht noch höher, denn der Zug steuert Enna mit dem bekannten Castello di Lombardia an, einer jener sizilianischen Städte, die hoch oben auf einem Berg thronen. Enna ist fast 1000 Meter hoch. Tunnel folgt auf Tunnel, Galerie auf Galerie. Der Bahnhof der Bergstadt liegt weit unten bei ca. 600 Meter und nachdem wieder einige Reisende ausgestiegen sind, setzt sich der Zug langsam wieder in Bewegung, nimmt Fahrt auf und rattert nun parallel in Sichtweite zu der auf Betonstelzen gepackten Autobahntrasse, bei dessen Anblick man sich fragt, warum dermaßen viel Geld in eine freischwebende Autobahn aus Millionen Tonnen Beton und Stahl gesteckt wurde. Hinzu kommt, dass diese Autobahn relativ schmal ist und eine Erweiterung in der Breite noch mehr Geld verschlingen würde.
Hinter Enna wird die Landschaft karstiger und versteppter, landwirtschaftliche Nutzflächen sind nur noch selten zu sehen, dafür reihen sich Eukalyptus- und Pappelwälder längst der Gleise. Nach einer weiteren halben Stunde geht es bergab in die fruchtbare Ebene an deren Küste Catania liegt. Der Ätna erhebt sich schneebedeckt in den Himmel und die Gegend wird besiedelter bis sich ein Ort an den anderen anschließt und die Vororte mit dem Betonriegeln der Plattenbauten Catania ankündigen. Wir sind 2 Stunden und 50 Minuten gefahren und ich bin noch nie durch eine derartig schöne, aber irgendwie traurig im Stich gelassene Landschaft gefahren.

Nach den Wahlen vor einigen Wochen zeichnet sich ein noch prekäreres Bild ab, als man vorher schon befürchtet hatte. Italien scheint politisch zweigeteilt zu sein. Der Norden wird von der Liga und der Forza Italia des nicht klein zu kriegenden Berlusconi beherrscht und der Süden, der sogenannte Mezzogiorno mit Sizilien fiel in die Hände der unberechenbaren Cinque Stelle des ehemaligen Komikers Beppe Grillo. Die Democrazia Italiana marginalisierte sich selbst und jetzt scheint das Wahrheit zu werden, was man sich überhaupt nicht vorstellen konnte. Die Rechten des Nordens und die unberechenbaren, liberalsozialen fünf Sterne tanzen in einen Schmusekurs miteinander. Diese Konstellation lässt nichts Gutes ahnen, denn das hochverschuldete Italien wird mit so unterschiedlichen Geistern nicht aus der Talsohle herauskommen. Verlierer wird wieder der Süden sein, denn an Geld mangelt es überall und der reiche Norden, der sich am liebsten abspalten würde, wird seine Kassen nicht sehr weit öffnen, um die dringend notwendigen Strukturprogramme für den schwachen Süden zu finanzieren. Das italienische Dilemma geht also weiter und die Verlierer stehen schon fest: die jugendlichen Arbeitslosen aus den vorwiegend ärmeren Klassen des Südens. Aber wie so oft ist in Italien nach der Wahl unmittelbar vor der Wahl oder es gibt wieder ein Herumwursteln, was nur den Besitzenden nutzen wird. Europäische Gelder müssen gezielt eingesetzt werden, um Italien davor zu bewahren, was Griechenland schon vor Jahren in die Falle getrieben hat. Vor allem die europäische Landwirtschaftspolitik scheint immer noch nicht begriffen zu haben, dass nicht jedes europäische Land hochsubventioniert werden muss, um irrationale nationale Interessen zu bedienen. Landwirtschaftsförderung, Bildungsinitiativen, innovativer Strukturwandel und ein radikaler, sozialer Systemwechsel scheint das Einzige zu sein, was dem darbenden Süden helfen kann.

Sizilien ist so groß und dennoch sehr dünn besiedelt, schroffe Gebirgszüge und welliges, ungenutztes Land wechseln einander ab, man hat stetig das Gefühl, dass hier in Zukunft sehr viel getan werden muss, damit diese Insel eine Zukunft für kommende Generationen hat. Die Insel benötigt dringend Hilfe und was wäre der reiche, oft so trübe und graue Norden Europas, wenn wir nicht die Buntheit, strahlende Helligkeit und reiche Zierart des Südens hätten.
Es ist März, wie wird die Insel in den heißen Monaten zwischen Juni und September aussehen. Wer sich ein Bild verschaffen will, kann nachvollziehbare Beschreibungen bei di Lampedusa im Buch „Il Gattopardo“ nachlesen oder sich den Film von Michael Cimino „Der Sizilianer“ anschauen. In mir regt sich der Gedanke, dass wir Sizilien und das ganze Mezzogiorno auf keinen Fall sich selbst überlassen dürfen. Europas Anfänge vor fast 3000 Jahren sind hier zu sehen und es ist unabdingbar, dass dieser so reiche und so andersartige Süden unseres Kontinentes nicht vergessen wird.

Wolfgang Neisser, 2. April 2018