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Tatoi oder die Sommer der Monarchen

Nachdem ich die Innenstadt oder die sogenannte City, die weder einen Anfang, noch ein Ende zu haben scheint, mehrmals durchstreift habe und in der Kürze der Zeit immer nur im Prinzip winzige, aber beeindruckende Wahrnehmungen und Eindrücke mitnehmen konnte, die ohnehin dem Zufall meiner von mir ausgesuchten Flanierrouten geschuldet waren, habe ich mich mehr und mehr in die Peripherie der Stadtlandschaft begeben, weil Athen ein so gigantisches Häusermeer darstellt, welches kaum zu greifen und noch weniger zu begreifen ist. Wir leben während unseres Athen-Aufenthaltes am direkten Rand der City und ich fahre mit der Straßenbahn 5 Stationen, um zum zentralen Syntagma-Platz zu gelange. Das dauert vielleicht 15 Minuten, je nachdem in welcher Quantität der nimmermüde und hektisch brausende Verkehr mit permanenten Hochdruck pulsiert. Nach fast drei Wochen Aufenthalt in der Wiege der Antike kenne ich diese Innenstadt und die weltbekannten Anziehungspunkte Akropolis mit seinen zahlreichen antiken Bauten und Tempeln schon ziemlich gut, dass ich neue Herausforderungen gesucht habe, um meine fotografischen Streifzüge weit über das gewohnte Bild der Stadt komplementieren zu können.

Am Donnerstag stand ich noch oben auf dem Lykavittos (Lykabettos)-Hügel, von dem man einen Panoramablick in alle Himmelsrichtungen genießen kann und wurde gefragt, wo denn das neue Olympiagelände von 2004 zu finden sei. Selbst mit dem 300 mm Objektiv entdeckte ich nur eine Ahnung der weitläufigen, ganz in weiß gehaltenen Architektur, der vom spanischen Planer Santiago Calatrava gestalteten Sportstätten weit im Norden der Stadt. Dort oben liegt einem die gesamte Stadt weiß-gelblich-grau zu Füßen und es ist es unglaublich schwierig, bestimmte ausserhalb des Zentrums liegende Bauwerke genauer zu identifizieren. Nach Süden ist es einfacher, der Küstenstreifen zum Meer wie das blaugrüne Wasser lassen zum Beispiel das neue alles überragende Kulturzentrum der Niarchosstiftung wie die beiden flachen Betonschüsseln der Handball- und Peace- und Friendshipsporthallen gut erkennen. Nach Norden hin erscheinen die dicht besiedelten Wohngebiete ab einer Grenze von vielleicht zehn Kilometern wie eine ineinander zerfließende, aber undefinierbare Melange aus Häusern. Zudem besitzt Athen keine Skyline aus Hochhäusern und erscheint einem immer wie ein großer steinerner Teppich, der über das Land gelegt worden ist. Das erste nördlich gelegene Gebirge, welches man erkennen kann, ist weder grün noch grau, es wirkt wie ein welliger Schnitt zwischen Himmel und Erde, eindimensional durch den Horizont gezogen wie eine schemenhaft aufgestellte Barriere zu den dahinterliegende Ebenen und den noch höheren Gebirgen mit dem Berg Olymp.

Aber mich reizt das Parnitha-Gebirge, das Athen im Norden begrenzt. Durch einen Zufall entdeckte ich im Zuge meiner Recherchen zur griechischen Geschichte ab 1820 eine Notiz, die die Existenz eines stattlichen Sommerpalastes im Gebirge erwähnt, die von einem der beiden „implantierten“ Könige aus Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts dort errichtet worden war. Die alte Sommerresidenz Tatoi. Faszinierend war aber nicht die Tatsache, dass dort ein monarchisches Refugium zwischen Zypressen, Pinien, Ölbäumen und anderen Gewächsen der Mittelmeerflora entstanden war, dass den Königen in den heissen Monaten als wohltuenden Abstand zur brodelnden Stadt bot, sondern, dass dieses ca. 4000 Hektar große Areal seit Jahren nicht mehr genutzt wird und Baumaßnahmen zur Restauration der zahlreichen Gebäude wegen der monetären Krise zunächst aufgegeben worden sind. Das gesamte Gebiet wird als Dasoktima Tatoiou im Parnitha-Gebirge bezeichnet und ist inzwischen in einen Nationalpark umgewandelt worden.

Die Zeit der griechischen Monarchie endete 1974 mit dem Referendum und gehört zwar schon seit fast 50 Jahren der Vergangenheit an, aber die Gegend um Kifissia und die angrenzenden Wohngebiete im nördlichsten Teil der Stadt ist für viele Bürger der reiche, aber nicht protzige Nobelvorort schlechthin. Kifissia kann man auch aus politischer Sicht, nicht nur wegen der Sommerresidenz Tatoi des Königs Georg I und seiner Erben, der hier mit seiner Entourage einen Ort der wohlhabenden und einflussreichen Athener Haute Volée etablierte, als geheimes Machtzentrum des Landes bezeichnen, das bis heute diesem Anspruch gerecht wird. Auch nach der Monarchie wohnten im Umkreis von Kifissia die Politik bestimmenden Familien Karamanlis und Papandreou. Der Ort selbst kann mit einiger Berechtigung als Vorort des alten Geldes bezeichnet werden.

Mich zog aber das verlassene und vernachlässigte Terrain der Residenz des Tatoi Palastes in diesem Waldgebiet des Parnitha Gebirges magisch an. So wie mich der märchenhafte und opulent gestaltete Palazzo de la Pena bei Sintra nördlich von Lissabon begeistert hatte oder der Stahnsdorfer Friedhof im Süden Berlins, der jahrelang zwangsweise auf dem Todessteifen der Grenze in einen Dornröschenschlaf versetzt wurde. Der von den Obristen und durch die Volksbefragung verjagte ehemalige letzte König von Griechenland Konstantin II ist offensichtlich schon vor Jahren in große Trauer gefallen, weil er den wunderbaren Ort seiner Kindheit und Jugend, dort wo sein ältester Sohn geboren wurde, nicht mehr sehen und bewohnen darf. Da er die seines Erachtens widerrechtliche Beschlagnahmung des im Prinzip seinem Geschlecht gehörenden Palastes nicht hinnehmen wollte, zog der Exilkönig 2002 vor den Europäischen Gerichtshof und verklagte den griechischen Staat auf Rückgabe. Das Gericht entschied im Grundsatz gegen ihn, allerdings wurde eine Verfügung erlassen, dass 1% des Schätzwertes von 13,2 Mio zurückzuzahlen sei. So berichtete die monarchistische website coronanachrichten. Inzwischen wurde im Folge leerer Kassen und einer alles umfassenden Staatskrise eine Summe um etwa 180 Mio. genannt, um all die königlichen Gemäuer mit den zahlreichen alten Häusern an irgendeinen Investor zu veräußern, der für diesen Park Wiederbelebungsversuche in Gang bringen kann. Wohl dem, der Geld genug besitzt, um die Herkulesaufgabe, alles wieder instand zu setzen, als Herausforderung oder fixe Idee betrachtet. Wie sich diese Idee aber mit der gesetzlichen Festlegung des Nationalparkkonzeptes verträgt, bleibt griechisch schleierhaft. Durch die Medien geisterten Projekte, die dem Disneyland nicht unähnlich waren oder luxuriöse Hotelanlagen als alternative Lösungen in Betracht zogen.

Georg I, der aus Schleswig-Holstein stammende zweite König, hatte das Gelände, ein ehemaliges osmanisches Landgut, 1871 gekauft und beabsichtigte dort nicht nur einen Palast als Sommerresidenz bauen zu lassen, sondern auch die gesamte Gegend für die herrschende Klasse der Königstreuen wie der Athener Großbürger aufzuwerten. Offiziell wurde aber die Verlautbarung unter die Bevölkerung gestreut, ein Naherholungsgebiet für alle Athener zu schaffen. Was auch immer der Wahrheit am nächsten kommen mag, zwischen Kifissia und Tatoi hat sich ein eher gut betuchtes Bürgertum seit dieser Zeit behaglich eingerichtet. Georg, der ursprünglich aus Dänemark stammte, ließ das gesamte Gelände mit dem Palast und den Gesindehäusern und der angrenzenden landwirtschaftlichen Farm in einem eher zurückgenommen klazzistischen, unauffälligen Stil errichten und nahm die Residenz des Zaren in St. Petersburg, den Peterhof, als architektonische Vorbild. Vielleicht hatte dessen Gemahlin Olga, aus dem Geschlecht der zaristischen Romanovs, ihren Willen durchgesetzt, ein Stück russische Heimat als visuelles Souvenir immer im Blick zu haben. Ernst Ziller, der Architekt und Stadtbaumeister bevorzugte zwar den „griechischen Stil“ des Klazissismus, bediente sich aber auch bei seinen architektonischen Entwürfen einer italienischen Neorenaissance und Elementen eines venezianisch-byzantinischen Stils, der zumindest eher unauffällig an den Einfassungen der Fenster sichtbar ist. Inzwischen ist das gesamte Anwesen mit den ca. 10 Gebäuden rund um den Palast aus Geldmangel dem Zahn der Zeit überlassen worden, der teilweise ganze Arbeit geleistet hat. Die Frau wie den königlichen Friedhof habe ich aus zeitgrünen leider nicht mehr aufsuchen können. Bei vielen kleineren Häusern sind die Dächer eingestürzt oder die Wände in sich zusammengebrochen, die Natur erobert sich überall das Steinerne, von Menschenhand errichtet, zurück. Der Palast selbst ist von einem Maschdrahtzaun umgeben und scheint in einem einigermaßen passablen Zustand zu sein, sofern man das von außen beurteilen kann, denn zum einem hat man keinen Zugang in das Gebäude und zum anderen sind alle Fenster mit perfekt eingepassten Holzblenden für eine Sicht nach innen versperrt. Ich bin überzeugt, dass man in das Gebäude gelangen kann, wenn man es will, aber gestern war der ganze Park dermaßen belebt, dass ich dieses Ansinnen gleich verworfen habe. Ebenso denke ich, dass man mit Geld, baulichem und handwerklichen Geschick und Einfühlungsvermögen den historischen Wert sämtlicher Gebäude wie des weitläufigen Parks in ein wunderbar gestaltetes Areal der geschichtlichen Erinnerung wie auch der öffentlichen Akzeptanz verwandeln könnte. Ein historisches Museum im Palast mit dem Schwerpunkt griechische Geschichte seit 1820 und die Pflege der außerordentlich sehenswerten botanischen Strukturierung des Parks würde für alle Athener wie vielen Touristen ein Anziehungspunkt erster Güte bedeuten. Auf jeden Fall bin ich sehr froh und zudem bereichert, diese wichtige Stätte der griechischen Geschichte gesehen zu haben und kann Athen-Besuchern nur empfehlen, sich diese Spur aus einer verloren geglaubten Zeit anzusehen. Zudem habe ich auf meiner Tour mit Metro, Bus und Taxi viele hilfsbereite und freundliche Menschen getroffen und allein diese Tatsache ist für mich immer eine entscheidende Bewertung meiner fotografischen Wanderungen. In den Städten nenne ich diese Art der Erkundung allerdings „fotografisches Flanieren“.

„Whether we like it or not, these items and buildings are part of our history and they should be exhibited,“ sagte der Kultusminister George Voulgarakis Reportern während einer Begehung des Terrains 2007 und fuhr fort: „This will become a museum and a large park, an area of recreation and environmental education for Athenians.“