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Ein Friedhof mit einer zwielichtigen Vergangenheit

Die Friedhöfe in den mediterran geprägten Ländern haben mich seit jeher fasziniert und nachdem ich erst letztes Jahr im Spätherbst wieder einmal die Toteninsel San Michele bei Venedig aufgesucht hatte, zog mich der am Meer liegende Friedhof Rotoli in Aranella, ein Vorort von Palermo, wie magisch an, nachdem ich seine Gartenarchitektur von der Spitze des Berges Monte Pellegrino an der Statua die Santa Rosalia aus 600 Meter Höhe gesehen hatte. Von oben sah es aus, als wären Haine in einem Halbkreis, nach innen immer kleiner werdend, eine Struktur wie bei einem Amphitheater, gepflanzt worden. Die Gräber waren aus der Höhe kaum zu erkennen. Später bin ich aber über die Höhen und dann durch die Serpentinen nach Mondello gelaufen und die Sonne hat mir bei dieser 11 km langen Tour die Birne etwas verbrutzelt. Immerhin habe ich den Gang bis zum Strand des azurblauen Meeres durchgehalten, um dann in einer Strandbar einen Sizilianischen Burger zu essen. Danach bin ich mit einer als Bus getarnten Ölsardinendose wieder nach Palermo zurückgefahren.
Um nach Aranella zu kommen, fährt man zunächst mit dem Bus 107 bis Ucciardone, um dann mit dem Bus 731 Richtung Aranella bzw. Mondello zu fahren. Da ich überhaupt nicht wusste, wo ich aussteigen sollte, habe ich immer das Leben auf den Bürgersteige beobachtet und je mehr Blumenhändler am Straßenrand standen, desto näher schien mir der Eingang des Friedhofs zu sein. Aber ich hatte mich verschätzt und musste noch ungefähr einen Kilometer laufen, um zum Eingangstor zu gelangen. Dort stand ein Blumenhändler neben dem anderen und die umgebauten Bestattungsvans und -kombis der Nobelmarken Mercedes und Co. kamen von allen Seiten, um auf das Friedhofsgelände zu gelangen.
Also schritt ich durch die Pforte und wurde sofort von zwei nicht sehr freundlich wirkenden Türstehern zurückgewiesen, die unmissverständlich zu verstehen gaben, dass Fotografieren hier nicht erlaubt sei. Kommunale Verordnung! Aber da ich mir fest vorgenommen hatte, dieses Gelände zu fotografieren, bat ich um eine Rücksprache mit einem Vorgesetzten. Mit dem Presseausweis und der Geschichte, eine Reportage machen zu müssen, wurde ich vorgelassen. In einem riesigen Zimmer mit einem riesigen Schreibtisch saß unter einem riesigen Bild saß ein Beamter, der wiederum nichts mit mir anzufangen wusste. Meine Begründungen und auch meine Hartnäckigkeit schienen aber zu fruchten und so griff der Mann zum Telefon und orderte einen weiteren Verantwortlichen in dieses imposante Zimmer. Ein baumlanger Typ im roten Polohemd erschien und als ich ihm die Story erneut erzählte, lächelte er und sagte, dass er mit mir eine Führung durch das gesamte Areal machen würde und dass ich soviel fotografieren dürfte, wie ich wollte. Er sei der Chef unterhalb des eigentlichen Chefs und könne das mit ruhigem Gewissen entscheiden. Wir gingen los und er erläuterte mir in einem italienisch klingenden, gebrochenen, aber immer noch verständlichen Englisch die einzelnen Wege, die Geschichten der kleinen Mausoleen oder Nekropole, die Formation der Gräber und die gesamte Anordnung und Gestaltung des Friedhofs.
Rotoli, der Name sei abgeleitet vom Rollen eines riesengroßen Steines, der von der Hl. Maria von der über dem Friedhof dräuenden Felswand heruntergeschleudert wurde, erzählte er mir mit verschmitzten Lächeln, und sei anschließend ins Meer gerollt war. Er deutete mit dem Finger auf eine Stelle in der Felswand und meinte, dass der Stein genau von dort heruntergestürzt sei. Like a Rolling Stone eben. How does it feel, how does it feel? To be without a home. Like a complete unknown, like a rolling stone. Passte das nicht zu diesem Gottesacker der größeren Art? Mit einer Aussage bin ich allerdings nicht klargekommen, als er mir den Begriff „ferro di cavallo“ erklärten. Erst meinte ich, dass er die Felsformation überhalb des Friedhofs meinen würde, dass wegen ihrer Form „iron horse“ genannt oder im italienischen, wenn ich es richtig verstanden habe „ferro cavallo“. Aber gleichzeitig zeigte er mir eine Blüte und wies auf den Blütenstängel hin und nachdem ich zuhause lange darüber nachgedacht habe, schwante mir, dass „ferro di cavallo“ unter Umständen eine ganz andere Bedeutung haben könnte. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.Ich weiss immer noch nicht, was dieser Begriff bedeutet, aber damit werde ich mich vorerst zufrieden geben müssen.
Diese Stelle, wo der riesengroße Stein die Erde platt gewalzt hatte, war seit dieser Zeit sakrosankt und so entstand nach der Erzählung des „Deputy Graveyardbosses“ die Anlage zwischen dem weiten Meer und der steil abfallenden hohen Felswand im frühen 19. Jahrhundert. Er erklärte mir, dass das Areal für die Toten nach einer Epidemie entstanden sei und dass diese sanft ansteigende Mulde fortan ideal für die Beisetzung der vielen Verstorbenen gegolten habe. Vom Bildhauer Basile, der übrigens auch dort begraben liegt, stammte angeblich der Masterplan zu der gartenarchitektonischen Form, die tatsächlich einem Amphitheater gleicht, indem die Halbkreise der Wege mit den dahinterliegenden Gräbern mit von Bäumen bestandenen Hainen abgegrenzt werden. Was er mir nicht erzählte und auch bei drängenderen Fragen immer wieder auswich, ist die Tatsache, dass dies der „Mafia-Friehof“ von Palermo überhaupt war. Hier liegen Capi und Soldaten, Bosse und Mörder, Zuhälter und Hehler und noch in den späten Jahren des letzten Jahrhunderts wurden hier prunkvolle Begräbnisrituale für manchen Boss der Palermo Connection abgehalten. Neben der ehrenwerten Gesellschaft, die schließlich auch irgendwo und irgendwie bestattet werden musste, liegen auf dem Friedhof so ehrenwerte und angesehene Persönlichkeiten wie Giuseppe Tomasi di Lampedusa oder der Reformer Emanuele Notarbartolo, eines der ersten Mordopfer der sizilianischen Mafia um 1860. Tatsache ist aber auch, dass alles, was auf diesem Friedhof gemacht oder geregelt wurde, nur mit der ausdrücklichen Zustimmung der Mafiosi geschehen konnte. Wer hier liegen durfte und wer nicht, bestimmten im letzten Jahrhundert die Familien der Mafia, die Palermo beherrschten.

Der schon fast am Rande der Felswand liegende letzte Halbkreis war im Durchmesser am größten und je weiter man nach unten in Richtung Eingangspforte kam, umso kleiner wurden die ineinander versetzten Halbkreise. Zwischendurch musste man über steile Treppen auf die nächst höhere Ebene steigen, um entweder nach rechts oder links den nächsten Halbkreis abzuschreiten. Die bildhauerische und ästhetische Form der Gräber wie der Mausoleen ähnelte eher einen mittelmäßig ästhetischen Baustil, wenn ich Vergleiche zu Lissabon, Venedig, Genua oder dem Friedhof Pere Lachaide in Paris anstellen würde. Allerdings gab es eine Besonderheit, die ich noch nirgends gesehen hatte. Neuere Mausoleen, die offensichtlich in den letzten Jahren gebaut worden waren, sahen wie kleine Bungalows oder modernere Reihenhäusersiedlungen in Kleinformat aus. Quadratisch, praktisch, gut und zeitgemäß gestaltet.
Nach ungefähr einer Stunde verabschiedete mich der freundliche stellvertretende Friedhofschef und ich machte mich auf den Rückweg. Nicht ohne vorher in einer kleinen, aber feinen Eisdiele in Aranella das leckerste Schokoladen-Café-Eis mit Mühen und ohne Flecken auf der Kleidung zu hinterlassen, genossen hatte. So große Eisbollen hatte ich bislang noch nicht gesehen und wer mir erzählt, dass das Eis am Foro Italico in Palermo am besten schmecken würde, den würde ich geheimnisvoll lächelnd auf den Weg zur Stadt der Toten schicken. Vielleicht war der Heilige Geist der Eispatisserie genau an diesem Ort für immer eingekehrt und hatte sich dort im Sinne einer demütigen Geste in der Nähe der verblichenen Mafiapaten niedergelassen.