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Eine Reise in den Mittelpunkt nicht vorhersehbarer Ereignisse der außergewöhnlichen Art

Eintausend Kilometer in eine terra incognita, Golf du Morbihan genannt, genauer gesagt, an der Südseite der bretonischen Halbinsel zwischen St. Nazaire mit der Loiremündung und Lorient, einer der größeren Städte im Südwesten der Bretagne. In Frankreichs äußersten Westen, der weit in den Atlantik hineinragenden Halbinsel (Mehr ein Subkontinent der Grande Nation), die als halb-eigenständiges Gebiet unter der Fuchtel des Elyseepalastes ihre Jahrhunderte alte Sehnsucht nach Autarkie zumindest symbolisch erhalten hat. Vor ungefähr 35 Jahren bin ich im August bis nach Quiberon gereist, um danach weiter in die Charente-Maritime zu fahren. Quiberon gehört auch zum Departement Morbihan und ragt als schmale Halbinsel, einem Wurmfortsatz gleich, südlich in den Atlantik. In meiner Erinnerung tauchen viel zu viele Campingplätze auf, die dicht an dicht aneinander gereiht vom nördlichen Zugang zur eigentlichen Halbinsel bis zu deren südlichen Spitze das gesamte Terrain einrahmen. Quiberon war und ist für touristische Ferienplanungen mit vielen Stränden, rollenden Wellen und des beständigen sonnigen, aber rauen Klimas gerade für Familien und begeisterte Wasserratten das ideale Ziel für die sommerliche Erholung. Aber die unermüdlich vorbeirauschenden Autokolonnen und die oft unerträgliche Geräuschkulisse auf den überfüllten Campingplätzen war mir von Anfang zuwider und fand nicht mein Gefallen, auch wenn das Meer für Menschen wie mich, die es lieben, von einem Wellental ins andere zu gleiten, ein Höchstmaß an Wohlbehagen und nahezu kaum gekannter Glücksgefühle bedeuten. Nach einem Tag sind wir wieder gefahren, um die Ruhe der Campagne zwischen St. Jean d´Angely und Matha in der Charente-Maritime genießen zu können. Vor ein paar Jahren lief mit Erfolg ein Film über ein in Medienkreisen sensationell eingestuftes Interview des Sternreporters Jürgs mit Romy Schneider in den Kinos. Das Porträt einer Getriebenen, die von Unglücksfällen gezeichnet am Ende ihrer Kraft und ihres kreativen Schaffens angekommen war. Sehenswert, aber wer die Zeit in den frühen 80ern nicht erlebt hat und die Histoire der ehemaligen Sissydarstellerin nicht genau kennt, dümpelt in einem eher boulevardesken Dialoggeplänkel vor sich hin und kann in der schalen Larmoyanz einer Nacherzählung die eigentliche Tragik dieser sehr begabten Schauspielerin nicht ergründen. In dieser Filmproduktion kann der filmhistorisch Interessierte die Hintergründe und spezifischen Eigenheiten des Kultur- bzw. Filmschaffens dieser Zeit nur rudimentär nachzuvollziehen. Les choses de la vie.

 

Bon. Schon im April haben wir in der Nähe der größeren Stadt Vannes, diese muss so bezeichnet werden, denn 60.000 Einwohner bedeuten in der Morbihan-Bretagne eine Größe, die kaum zu überbieten und schon gar nicht zu übersehen ist. Wir haben auf der im Golf du Morbihan liegenden Halbinsel Baden-Larmor ein Haus gemietet, welches unseren Ansprüchen oder unseren Vorstellungen eines Hauses in der Nähe des Meeres für mehrere Wochen genüge leisten könnte.

Aber schon im April war es sehr kompliziert und ein schwieriges Unterfangen ein geeignetes Mietobjekt mit der Ausstattung, die für einen längeren Aufenthalt notwendig ist, über einen der Internetanbieter zu bekommen. Ohne Internet ist es fast unmöglich, in einer unbekannten Region überhaupt eine entsprechende Unterkunft zu finden. Nachdem ich die in Frage kommenden Häuser im Gebiet des gesamten Golfs durchgecheckt hatte, blieben am Ende nur zwei oder drei Angebote übrig, die laut den Beschreibungen einigermaßen in Frage kommen würden. Man muss und kann sich nur auf Fotos, Beschreibungen und die Liste der wichtigsten Einrichtungsmerkmale blind verlassen, da sich die Touristikbranche fest in den Händen der neuen Digitalkapitalismusportale befindet und die Fülle der Angebote nach den Recherchen bekannter Beurteilungsfachleute kaum zu durchschauen sind. Nach langjähriger Übung weiß ich ungefähr, was in Frage kommen kann und was nicht, aber das bedeutet noch lange keine Sicherheit, die sich dann auch in der Wirklichkeit bewahrheitet. Schein und Sein, Wahrheit und Lüge liegen in der Welt der touristischen Digitalofferten eng nebeneinander. Mit Weitwinkel, Photoshop und schwammigen Erklärungen kann jeder Anbieter, der es darauf anlegt, selbst jede Baracke zu einem Bungalow ummodellieren und jedes kleine Steinhaus zu einer Villa emporheben. Zertifizierungsregeln kommen eher selten vor oder sind erst gar nicht vorhanden, während zusätzlich ein Slalom durch viele Kommunikationshürden jeder vermeintlichen Erkenntnis mehrere Fragezeichen hinzufügen. Wer bereit ist und das notwendige Geld zur Verfügung hat, kann oft für den doppelten Preis ein größeres Maß an Sicherheit mit ins gepflegte Ruhekissen einer Wunschbehausung mit allem Komfort und Komm zurück anmieten. Aber viele vergessen, dass es die vollkommene Sicherheit für alles, was in der Zukunft geschieht, nicht gibt und im Tourismus aus Gründen des verschärften Wettbewerbs schon gar nicht geben kann. Ehrlicherweise, wenn der Mensch die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft genauer durchdenkt, ist das auch gut so.

In Zeiten der Pandemie sollte keiner vergessen, dass nicht nur der Mensch, sondern auch die aktuellen Veränderungen, die jeder Tag mit sich bringt, von Vulnerabilität und Ungewissheit geprägt sind. Das Virus hat sich bei uns eingeschlichen, man könnte auch sagen eingenistet und wir werden es so schnell nicht mehr los. Wir beide sind vollständig geimpft und fühlen uns wesentlich gelassener als vor einem halben Jahr, ha ha, aber das Virus durchläuft mit Hilfe des Menschen und dessen Eigenschaft, alles für sich zu beanspruchen, weltweit Transformationsprozesse, die unserem Denken und Fühlen überlegen sind.

Die erste Etappe soll bei Le Havre mit einer Hotelübernachtung enden. Auf meiner Suche in der heimischen Umgebung vermeide ich, das Hotelkettenunwesen so gut wie möglich zu umgehen, weil diese gleichförmigen Plattenbauten mit der Ausstattung eines Nachtasyls nur Unmut oder Depressionen verursachen. Unser bevorzugtes Hotel liegt außerhalb der Stadt in einem sehr kleinen Weiler und bot einen akzeptablen Preis.
Das Ziel Le Havre obliegt aber auch einer anderen Überlegung oder einer anderen Zwangsläufigkeit, die mit der Kraftstoffversorgung des Automobils verbunden ist. Hybrid mit Superbenzin und Gas, geschuldet der Sparsamkeit und einer gewissen ökologisch geprägten Verantwortung, die damit zusammenhängt, dass dieses Gas keine landläufig bekannte Erdgassorte ist, sondern CNG = Natürliches komprimiertes Erdgas versetzt mit 20 Prozent Biogas aus der Landwirtschaft. In Frankreich heißt dieses Gas GNC = Gaz Naturelle comprimeé und es existieren im ganzen Land laut offiziellen Angaben lediglich 145 Tankstellen, wo dieses Gas in den Tank gepumpt oder gepresst werden kann. Einige Kenner der Materie behaupten sogar, dass es eigentlich nur knapp über hundert Tanken in der gesamten französischen Republik gibt, aber beide Zahlen signalisieren deutlich die Verknappung, deren Ziel einer flächendeckenden Versorgung bis heute nicht erreicht werden konnte.
Frankreich ist flächenmäßig größer als Deutschland und kann mit ca. 64 Millionen Einwohnern als wesentlich bevölkerungsärmer als unser Staat bezeichnet werden. Es gibt eine Karte im Internet, wo die einzelnen Tanken zu finden sind und bei Le Havre soll eine der größeren Servicestationen des Landes installiert worden sein. Eigentlich wird somit CNG-Kraftstoff zum eigentlichen Ziel unseres Zwischenstopps. Der Umwelt und der individuellen Sparsamkeit zuliebe.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Unser Hotel liegt nahe der Autobahn und sieht auf dem Foto von Booking.com wie ein Manoir oder Herrenhaus aus, das mit der Zeit in einen verblichenen Charme geschliddert ist. Aber ein derartiges Ambiente gefällt uns und hat mich dazu bewogen hat, dort zu buchen, was die geringe Übernachtungsgebühr zu einer Schnellentscheidung machte. Autobahnstrecken zu beschreiben oder gar zu erklären finde ich müßig, denn Autobahnen werden in die Landschaft gefräst und an beiden Seiten der Trasse mit Böschungen oder Lärmschutzwänden von der dahinter liegenden Umwelt visuell abgeschnitten oder abgeschirmt, es sei denn, man fährt durch große Industrie- und  Warenumschlagsgebiete oder durch flache Landschaften wie die Grenze zwischen Flandern und der Wallonie, in der die Besiedlung eher als spärlich zu benennen ist. Die sehr weitläufige Industriebrachengregion zwischen dem belgischen Mons und dem französischen Denain, dort, wo Kohle und Stahl einst alle Schornsteine rauchen ließen und den Himmel in eine graue Dunstglocke verwandelten, schlug einst eine industrielle Herzkammer Frankreichs und Belgiens. Jetzt siechen große, dem Rost und dem beständig nagenden Zahn der Digital- und Servicezeit überlassene Stahlwerke, Hochöfen oder andere Fabrikanlagen größeren Ausmaßes vor sich hin. Allein die Kohlehalden mutierten in den letzten 40 Jahren zu spitzen grünen Hügeln, die zum porös roten Rost der stählernen Industriekolosse einen schönen Kontrast bieten.
Lassen wir das, ich befürchte lyrisch zu werden. Wir fahren an Albert vorbei, (Kleinstadt im Department Nord) da wo das große Ehrenmonument für die Gefallenen, also den vom Kriegstod Hingerafften des Grand Guerre (1914-1918) errichtet worden ist. Die hügelige Somme-Landschaft ist mit Soldatengräbern vieler damals eigentümlicher Herren Länder übersät, von Wilhelm II über Petain bis zu Woodrow Wilson.
Wir erreichen Amiens, von der außer einer grauen Silhouette nichts zu sehen ist, aber aus eigener Erfahrung eine sehr schöne Stadt ist, deren gotische Kathedrale zu den bedeutenderen Sakralbauten dieser Epoche zu zählen ist.
Bald müssen wir die Abfahrt zu unserem Hotel einschlagen. Bislang brauchte ich eigentlich weder Karte, noch Navi, aber jetzt wurde mein iPhone zum Pfadfinder im Gewirr kleiner, schmaler Straßen, die durch menschenleere Dörfchen führten. Maps. Google leitete mich und ich wähnte mich schon am Ziel, als genau dort, wo die Abfahrt zu unserem Ziel sein sollte, nur ein kleiner Weg aus den Büschen lugte, der ein Verbotsschild zeigte, aber eher für landwirtschaftliche Fahrzeuge gedacht war. Hin und Her. Anhalten und Drehen. Nachdem ich noch einmal mit Hilfe des logischen Denkens und dank meiner Einsichten aus Houellebecqs Buch „Karte und Gebiet“ mein Gehirn kräftig unter Strom gesetzt hatte, spürte ich instinktiv, dass der kleine, „Scheißweg“ genau unser letztes Teilstück der Reise sein musste. Tatsächlich sah ich ein sehr kleines Schild von Blättern umrankt und zwischen Büschen versteckt, auf dem der Name des Hotels als Hinweis zu verstehen war. Es ging steil bergan, zwei Haarnadelkurven durch einen dichten Wald, das Auto passte gerade zwischen die links und rechts den Weg einrahmenden Bäume, dann öffnete sich der Wald und vor uns sahen wir die beiden Türme des mir vom Photo her  bekannten Hotels. Im strahlenden Sonnenschein top of the hill. Ein schüchterner junger Mann, der offensichtlich zudem nicht so gerne sprach, zeigte uns unser Zimmer, nachdem er langsam aus dem seitlichen Flügel zur Begrüßung kam. Das für uns gedachte Zimmer schien mir hier der absolute Höhepunkt des Übernachtens zu sein. Whirlpool, Kraftraum, ein sehr großes Schlafzimmer und eine Küche füllten die obere Etage des einen Turms aus. Mit einem eigens dafür eingerichteten Fahrstuhl gelangten wir in dieses Appartement. Das war so überraschend einladend und von höchster Qualität, dass ich es kaum glauben konnte, das Ergebnis aber dankend anzunehmen bereit war. Faux Pas. Es war eben kaum zu glauben gewesen und es war, shit happened, das falsche Zimmer, denn der Jungmann hatte unsere Namen mit einem anderen verwechselt und führte uns unter vielen Entschuldigungen in ein kleines Zimmer im Mittelteil des Hauses, das wir aber ebenso gut fanden. Für eine Nacht reichte das vollkommen aus, das andere Zimmerensemble verlangte nach einem Sportchampion, der für die permanente Fitness einen Kraftraum mit Whirlpool benötigte oder einen Pornoproduzenten mit seiner sehr jungen Geliebten, der seinen anrüchigen Status ein wenig hätte aufpolieren müssen und sicherlich den Whirlpool sehr anregend gefunden hätte.

Dieses Hotel ist ein Glücksfall für jeden, der Frankreich liebt und von all den „neumodernen Gestaltungsquatsch der sich einander ähnelnden Hotelkettenbunker“ die Schnauze voll hat. Es war ein Jagdschloss aus dem frühen 19. Jahrhundert und der junge Mann schien offensichtlich der Erbe dieses einzigartigen Schmuckstücks zu sein. Welch glücklicher Zufall mit Berechnung. Ein mitten in einem Wald gelegenes Jagdschloss, umgeben von Weiden und Wiesen, auf denen Kälber grasten und das Heu Erinnerungen an jugendliche Abenteuer wachrief. Das gesamte Haus geizte in keinem Raum, überall auf Treppen und in der sich anschließenden, kleinen Außengastronomie mit wohltuenden visuellen Überraschungen. In dem zum Wald hin gelegenen Garten standen einige antike Stahltische mit den entsprechenden Stahlstühlen, alles in einem allmählich verbleichenden grünen Farbton gestrichen, von Blumen und Zierbüschen umgeben, lud uns dieser Platz zum abendlichen Verweilen ein. In einem Raum stand ein Poolbillard, im Treppenhaus gab es eine mit Baldachintüchern ausstaffierte Nische, in der eine ebenso antike Puppe auf einen kleinen Stuhl drapiert war. An den Wänden hingen alte Werbeschilder oder Landschaftsbilder, in unserem Badezimmer stand eine sehr alte Babywaage, die aus einer Zeit stammen musste, als frisch Geborene in einer Art Blechschale gelegt wurden, um deren Gewicht auf einem sehr großen und runden Zifferblatt bis 12 kg Lebengewicht abzulesen. Eingerahmte Notenblätter und andere Zeugen aus der Zeit der hochherrschaftlichen Jagdgesellschaften schmückten die Wände.

Wir saßen lange draußen und unterhielten uns angeregt, auch sehr bewegt über all die „Choses de la vie“, die jedem von uns im Leben begegnet waren und sich prägend ausgewirkt hatten. Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang suchten wir endlich das Bett auf und schliefen in der fast unheimlichen Stille ein. Noch nicht einmal ein Käuzchen ließ sich herab, in der Nacht seine Anwesenheit bemerkbar zu machen. Bis zum ersten Schrei aus einer Hahnenkehle gegen Fünf Uhr blieb es die Ruhe für einen Sommernachtstraum. Diese Herberge der besonderen Art erwies sich nicht nur als Zufall, sondern auch als unverhoffter Glücksfall, der eine schelmische Flamme des Glücks auflodern ließ.

Wir brachen früh auf. Nach Kaffee und Croissants mussten wir über die Boucles entlang der Seine in das Industriegebiet am Flußufer fahren, wo die Tankstelle auch samstags den ganzen Tag geöffnet hatte. So stand es geschrieben. On vera. Nach 7:30 sind wir losgefahren, um dem Ziel näher zu kommen. Wie sich der Leser denken kann, kamen wir aus der Idylle einer Märchenlandschaft mit Jagdschloss, um in die Zivilisationsanforderungen der Realität zu gelangen, oder was immer die Menschen unter unserer Lebenswirklichkeit verstehen. CNG gehört sicherlich in einen Zwischenhimmel oder einer nahen Verwandten all der unergründlichen List und Tücken des Fortschritts, die in einer Ökometaebene geboren worden sind. Das ist aber unerheblich oder „Wer weiß das schon!“, wie ich zu sagen pflege. Wie sagte die gehässige Portiersfrau in der Schmonzettenserie Lindenstraße noch: „Wenn´s denn schee macht!“

Diesmal ließ uns der google.maps Navigator nicht nur im Stich, sondern dirigierte eigentümliche Wegbeschreibungen, die sich nach jeder zweiten Kurve als falsch herausstellten. Da ich aber Le Havre ziemlich gut kenne, weil ich letztes Jahr zu fast allen Stadtteilen und städtischen Besonderheiten gelaufen bin, wusste ich ungefähr, wohin uns das Suchspiel der Straßenführungen bringen wollte. Der Morgen begrüßte uns mit einem bedeckten Himmel und wesentlich tieferen Temperaturen nahe der Gänsehautgrenze. In der Seinebucht fühlte es sich noch kälter und windiger an als auf den darüber ragenden Hügeln. Nach einem heißen Tag, der an die Canicule oder Hundstage erinnerte, schockte das den spärlich bekleideten Körper und ein unangenehmes Frösteln drang in alle Poren ein.

Dann sah ich den großen Gasbehälter von AVIA und nach einer weiteren „Verfahrung“ erreichten wir schließlich die Tankstelle, die eher einer Weltraumstation aus dem Katalog einer aufstrebenden Nation des neuen Reichtums wie Bahrain glich. Kein Mensch war zu sehen und die Tanksäulen, die offensichtlich der letzte Schrei in der Tankzapfmode waren, zeigten uns gleich die Grenzen unserer Möglichkeiten auf. Zum einem irritierte die sehr umständlich formulierten Anleitungen in Französisch und zum anderen die Suche nach einem für deutsche Kreditkarten passendes Bezahlsystem, denn ohne Moos ist auch beim Gas nichts los. Nach wiederholten Versuchen und auch erregten Diskussionen hielt ich einen vorbeifahrenden Lastkraftwagen an, der offensichtlich durch suchendes Herumirren hier gelandet war, aber etwas ganz anderem auf der Spur war. Der Fahrer verstand mich nicht und ich verstand mich selbst nicht, wie ich auch ihn nicht verstehen konnte. Die diffizile Kommunikation hing an einem seidenen Faden. So schlecht kamen meine Worte in einem dadaistischen Französisch aus meinem Mund, dass er seinen Beifahrer ansprechen musste, der daraufhin ausstieg, um uns zu helfen. Erst jetzt stellte sich aber heraus, dass auch der Beifahrer nicht viel von dem System verstand und wie wir alle in einem Netz der Unverständlichkeiten hängen blieben und schließlich daran scheiterten. Nach einigen Fragen bemerkte ich, dass er überhaupt kein Französisch verstand und auch der Technik oder Verfahrensweise der Tankmodalitäten hilflos ausgeliefert war. Als ich seinen Flüchen oder vor sich hingebrabbelten Ausführungen genauer zuhörte, bemerkte ich, dass beide entweder Russen, Ukrainer, Polen oder Letten waren, die die Landessprache nicht beherrschten und sicherlich eine Tankstelle mit normalen Treibstoff suchten. Sicherlich sind die Gastankstationen in den östlichen Ländern, die von Gazprom beherrscht werden, wesentlich einfacher zu bedienen, schließlich kann der einfache russische Lastkraftwagenfahrer nicht mit Kompliziertheiten westlicher Dekandenz aufgehalten werden . Vielen Dank, bonne route. Auch ein vorbeikommender Spaziergänger, den ich bat, uns zu helfen, erwies sich als genauso unkundig, wie wir es waren. Was bliebe uns anderes übrig, als unser Gefährt mit dem guten, alten 98 Supernenzin zu füttern, auch wenn ich im Hintergrund die Umwelt laut aufjaulen hörte.

Ein letzter Versuch, wie man so treffend sagt, sollte die Lösung der vertrackten Situation bringen. Inzwischen hatten wir herausgefunden, dass abseits versteckt hinter den Säulen in einem schwarzen Kasten ein Kreditkartenterminal versteckt war. Das procedere, das uns auf dem mehrsprachig programmierten Display angezeigt wurde, erwies sich als für uns umständlich, aber wahrscheinlich für jeden Insider französisch geprägter Ökologiekenntnis als kinderleicht Angelegenheit bezeichnet würde. Um es zu verkürzen; wir probierten Kreditkarten und normale EC-Karten aus, allein den CNG-Kraftstoff blieb uns weiterhin wegen Zahlungsmissverständnissen zwischen Mensch und Maschine verwehrt.

Im Dunst der Seine-Nebel überquerten wir für 5,30 Euro den Pont de Normandie und erreichten am anderen Ufer Calvados, das Departement, welches für so leckere Sachen wie Käse, Cidre, den aus Äpfeln gebrannten Digestif Calvados und den far breton weltweit einen guten Namen vorweisen kann. Wir fuhren einer freundlicher gewogenen Zeit entgegen, deren Höhepunkte Meer, Wellen, Sand, Wälder und Hinkelsteine und sehr viel eiweißhaltige und schmackhafte Nahrung aus den Tiefen des Atlantiks bestehen würde. Wir mussten nur noch von Norden nach Süden die gesamte Bretagne durchqueren.

Wolfgang Neisser, ca. 14. Juni 2021

Teil 1