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Seit über 40 Jahren lese ich regelmäßig jeden Morgen (mit marginalen Ausnahmen) eine überregionale Tageszeitung, das gehört zum Selbstverständnis eines Zeitgenossen, der mit und in einer Gesellschaft lebt, welche für mich als Bürger eines Staates freiheitlich, demokratisch und sozial gerecht sein sollte. Schon als Gymnasiast schaute ich immer wieder in die FAZ*, die mein Vater abonniert hatte. Später waren es vorwiegend die Frankfurter Rundschau, die taz* und die SZ*, wobei zusätzlich die Lektüre der wöchentlichen Ausgaben der ZEIT, der Woche, der Weltwoche*, des Spiegels und des Freitag, hinzukamen. 

Eine Kontaktbeschränkung wirft jeden von uns in der aktuell grassierenden Pandemiekrise auf sich selbst zurück und weil ich mich dezidiert mit soviel wie möglichen Informationen zur „Corona-Krise“ beschäftige, nutze ich die Zeit, um meine kritischen Gedanken zu den unterschiedlichen Informationsangeboten in diesem Blog aus meinem persönlichen Meinungsspektrum öffentlich zu machen. Zu vieles erscheint widersprüchlich oder verkürzt, inhaltlich unsauber und gefährlich, spekulativ und falsch, aber vor allem und notwendigerweise auch als aufklärende und wichtige Hinweise, die leider von den fetten Schlagzeilen und Besorgnis erregenden Zahlen viel zu oft erdrückt werden.
Seit mehr als einer Wochen sind die neuen „Regeln“ der Regierungen von Bund und Ländern in Kraft und nach einer Woche, die vielleicht nur einen Bruchteil der gesamten Pandemieauswirkungen ausmacht, sollte man weiterhin pragmatisch und ruhigen Blutes die vergangenen Ereignisse betrachten und die noch kommenden Entwicklungen so einordnen, dass die Wahrheit mit allen Kolleteralschäden nicht auf der Strecke bleibt. In Zeiten des Populismus und der Fake News sowie der Verschwörungstheorien und vermeintlich logischen Vorhersagen müssen wir sehr genau hinschauen, was außerhalb der „Quarantäne“ oder „Kontaktvermeidung“ in der gesamten Gesellschaft hier in Deutschland und der übrigen Welt vor sich geht.

Ebenso beunruhigend wie die Coronaseuche sind Angriffe auf demokratische Basiselemente, wie sie beispielsweise in Polen und Ungarn, in der Türkei oder im Iran und vor allem in den USA zu beobachten sind. In einer Nacht- und Nebelaktion das Grundgesetz des polnischen Staates auszuhebeln, um der nationalistisch konservativen PiS-Partei noch mehr Macht (-Missbrauch) zu gewähren und weitgreifende autokratische Beeinträchtigungen der polnischen Demokratie in die Wege zu leiten, muss bei jedem überzeugten Europäer die Alarmglocken klingeln lassen. Der ungarische Staatspräsident Orban, der schon seit Jahren mit der Axt der Entdemokratisierung einen Kahlschlag in verbriefte Rechte treibt, setzt per Dekret das Parlament schachmatt und kann auf unbestimmte Zeit so regieren, wie er und seine Partei Fidesz es für opportun halten. Diese Formen von Ermächtigungsmaßnahmen werfen die Frage auf, ob die strukturellen Grundsätze und Regeln der Demokratie, vor allem der parlamentarischen Demokratie, nicht dringend auf einen Analyseprüfstand gesetzt werden müssen, um die Zukunft der Rechte jedes Einzelnen so zu gewährleisten, dass er keine Angst vor totalitären Methoden zu haben braucht. Was die Türkei und den Iran wie alle anderen islamisch geprägten Staaten des Nahen Ostens betrifft, so wissen wir doch alle längst, dass wir alle sehenden Auges Unrecht, Unterdrückung und Missbrauch der Menschenrechte dulden, weil die globale Wirtschaftsordnung im Kern nur als Profitmaximierungsmaschine des Neoliberalismus und der Internationalen Finanzmärkte funktionieren kann und die Angst vor Wohlstandsverlust vielen den Blick vernebelt. Den Wohlhabenden und Superreichen noch mehr Reichtum zu gewähren, der zu einem beträchtlichen Teil auf Kosten der weltweit staatserhaltenden Mittel- und Unterklassen zurückzuführen ist, die die Hauptlast der Steuer wie der gesellschaftlich lebenserhaltenden Konsumwirtschaft durch Agrar- und Konsumgüterproduktion wie durch Dienstleistungen tragen. Die Folge ist ein schleichender Prozess, der eine immer rechtlosere, ausgebeutete und vernachlässigte Mehrheitsbevölkerung am Boden krabbeln lässt. Erst die schrecklichen und leidvollen Auswirkungen des Coronavirus Covid-19 zeigten auf, dass sich der aktuelle Zustand der globalen Wirtschaft und vieler nationaler Gesellschaftssysteme seit Jahrzehnten in einer Schieflage befindet oder um es deutlicher auszudrücken, eine Ungerechtigkeitkluft zwischen den unterschiedlichen Klassen erzeugt hat, die auf Dauer das derzeitige weltumspannende Wirtschafts- und Finanzsystem nicht tragbar erscheinen lassen. Die Pandemie Corona reißt die bunte Decke, die über den individual konsumistischen Strukturen gelegen hat, weg und offenbart, dass die Verbreitung eines unbekannten und kaum zu stoppenden Virus den tatsächlichen Zustand unserer Erde als zutiefst angreifbar und fragil vorführt. Wer durch die Warnungen und Mahnungen der Klimakrise immer noch nicht begriffen hat, was die Stunde geschlagen hat, wird jetzt die Augen vor Schrecken weit aufreißen, wenn er vor sich das gefräßige Gespenstmonster der Seuche entdeckt und mit Schaudern dessen Gefährlichkeit bis tief ins Mark begreift.

Dass diese Seuche oder Pandemie – die moderne Massenkommunikation versucht immer die Begrifflichkeiten verbal abzumildern oder zu verniedlichen – sehr eng mit dem systemischen Zustand der Erde zu tun hat, kann nach den Beobachtungen der größten Infektionsherde weltweit nicht mehr abgeleugnet werden. Auch wenn einige Presseorgane diese These als nicht unbedingt nachvollziehbar nennen, fällt doch auf, dass die größten Infektionsherde in hoch industrialisierten, bevölkerungsreichen Städten und Regionen zwischen Wuhan und der Lombardei oder New York aufgetreten sind. Der kleine Kreis Heinsberg wird seit über vier Wochen als Hotspot in Deutschland bezeichnet, aber wenn man die Zahlen der Infizierten in den Großräumen München und Stuttgart einmal genauer unter die Lupe nimmt, ergibt sich eine differenziertere Gemengelage. Dass die Lombardei, die reichste, industriell best aufgestellte und bevölkerungsreichste Region Italiens dermaßen stark betroffen ist, sollte auch zu denken geben, denn rund um Mailand schlägt das wirtschaftliche Herz Italiens sowie deren globalisierter Vernetzung. Mit 11 Mio Einwohnern verfügt der größte Messeplatz Europas über die wichtigste Börse Italiens und gilt  immer noch als Modezentrum, vor allem auch wegen der traditionellen Schuhindustrie. Das Bruttosozialprodukt pro Person beträgt 35.044 € (Durchschnitt übriges Italien: 26.548 € ). Aber auch die metallverarbeitende Industrie sowie die chemische, petrochemische und pharmazeutische Industrie genießen weltweite Bedeutung. Rund um Mailand mit den mittelgroßen Städten Brescia, Bergamo und Piacenza wurde eines der dichtesten Autobahnnetze Europas erbaut und der Öffentliche Personentransportverkehr überzieht die gesamte Industrieregion mit einem dichten Netz an Schienen und Straßen. Die gesamte norditalienische Ebene mit der Emilia Romagna und Venetien gilt in Italien als der Global Player und der Tourismus ist eines der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren, vor allem wegen der am Alpenrand liegenden Seen Gardasee, Lago Maggiore, Lago Lugano und Comer See. Die südlichen Alpengebirgszüge und Südtirol genießen weltweit einen hervorragenden Ruf als Touristenmagneten. Nach den Gelüsten der rechtsradikalen Lega Nord sollte schon in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts ein autonomer Staat entstehen, der Padanien genannt werden sollte. (von Ital. padano (abgeleitet aus dem historischen lateinischen Flussnamen „Padus“ für Po, der als wichtigste Wasserader Norditalien von Westen nach Osten durchfließt – wikipedia)
Über die erste größere Coronainfektion wurde Mitte Februar rund um die Kleinstadt Nembro berichtet, wobei die ersten beiden Fälle zwei chinesische Touristen waren, die Italien bereisten und in Rom positiv getestet wurden. Laut italienischem Innen- und Gesundheitsministerium wird aber dementiert, dass es einen Zusammenhang mit dem Infektionsherd Nembro gäbe. Warum die Region Bergamo dermaßen von dem Virus überfallen wurde, gibt den Analysten unter den Virologen und Politikern aktuell immer noch große Rätsel auf, auch weil man vielleicht tieferes Bohren vermeiden will. Spekulationen der wildesten Art sind überall im Umlauf, allerdings würde ich als eine wichtige evidente Beobachtung die Nähe der auf Hochtouren laufenden Industrie in dicht besiedelten Regionen oder Städten anfügen. Zusätzlich sind die damit verbundenen globalen Abhängigkeiten einer arbeits- und einzelteiligen Industrie wie dem überbordenden Individualkonsum innerhalb der freien Marktwirtschaft hervorzuheben. Des Weiteren ergeben die weltweit umherkreisenden Touristenströme zwischen allen industrialisierten Ländern und Drittweltländern ein umfangreiches Risikopotenzial. Unterschiedliche kulturelle Eigenarten wie Verhaltensweisen stoßen zwangsläufig aufeinander, wenn eine relativ kleine Stadt wie Venedig Jahr für Jahr 30 Millionen unterbringen und verpflegen muss. So geriet die Tiroler Skiort Ischgl für Touristen aus aller Welt in diesen Wintermonaten zu einer Virenschleuder mit rasant steigenden Infektionszahlen, weil ein infizierter Mann in einem nächtens immer überfüllten Amüsierlokal trotz erkannter Covid-19 Erkrankung weiter arbeiten durfte. So war die Karnevalsfeier mit fast 2000 Menschen im Dorf Gangelt im Kreis Heinsberg der Hotspot der Infektionsrate für Deutschland, insbesondere für NRW. Das Abfeiern der Skisaison in Ischgl wurde zum Super-Spread der Pandemie für die europäischen Länder.

Der Freiburger Medizinethiker Prof. Dr. Giovanni Maio weist zurecht daraufhin, dass der aktuell viel diskutierte eventuelle Zwang zur Triage oder Selektion nach dem Schweregrad der Erkrankung oder dem Alter des infizierten Patienten auch bei dieser Pandemie nur eine allerletzte Maßnahme sein kann. Was in Kriegszeiten bei tausenden von Schwerverletzten nach einer militärischen Schlacht keine Zweifel in der Priorisierung der zu behandelnden zuließ, ob ein nicht mehr zu rettender und im Sterben befindlicher Soldat aussortiert wurde, darf und kann in unserer demokratisch verfassten Gesellschaft nicht praktiziert werden. Der Zwang oder jede verschleiernd genannte Notwendigkeit konnte nur entstehen, weil unser Gesundheitssystem inzwischen wirtschaftlich und profitorientiert zusammengespart wurde und nicht dem eigentlichen Zweck eines Krankenhauses, Leben ohne Wenn und Aber zu retten, nicht mehr gerecht wird. Jedes staatlich aufgebaute Gesundheitssystem mit niedergelassenen Ärzten, Krankenhäusern und Rehabilitationszentren, aber auch mit dem notwendigen Fachpersonal und allen als notwendig zu geltenden Produkten wie Pharmazeutika, medizinischen Geräten, Schutzvorrichtungen oder Bettenkapazitäten muss ausschließlich dem Wohl der gesamten Bevölkerung ohne Ausnahme zur Verfügung stehen. Das steht im Grundgesetzt, ist ein Gesetz der Ethik und muss als eines der tragenden Säulen einer demokratischen Gesellschaft verbrieft sein. Die Auswirkungen sind jetzt schon zu spüren und wenn ein Gesundheitswesen lediglich betriebswirtschaftlich bewertet wird, kann einen Staat in einer Krise wie dieser in größte Verwerfungen stürzen. Außerdem kann ein Gesundheitswesen eines demokratischen Staates nur unter den strengen Maßstäben ethischer Werte für die Menschen zum Nutzen sein. Die Gesundheitsfürsorge darf niemals unter kalkulatorischen Strukturen gesehen werden. 

Der Philosoph John Rawls schrieb in seiner Theory of Justice, dass es die Aufgabe des Staates sei, mit jeder Politikentscheidung den Nutzen für den am schlechtesten Gestellten in einer Gesellschaft zu steigern. Er nannte das die Maximin-Regel.

Die Sprache in Zeiten des sich ausbreitenden Virus bedient sich in den Begriffen für den Umgang mit der Pandemie und den daraus folgernden gesellschaftlichen Herausforderungen emotionsloser Technokratieformulierungen wie Risikogruppen, Letalitätsraten, Kontaktbeschränkungen oder Erzeugung flacher Infektionskurven. Wurden zu Beginn die Risikogruppen eindeutig in ältere Menschen über 69 Jahren und Menschen mit Vorerkrankungen wie Asthma, Diabetes, Krebserkrankungen oder Herz-Kreislaufschwächen eingestuft, stellte sich inzwischen heraus, dass die Gesundheitsexperten zu kurz lagen. Jeder kann erkranken, jeder gleichgültig welchen Alters kann im Verlauf der Erkrankung auch versterben, auch wenn die Statistiken die meisten Todesfälle bei den über 70jährigen verzeichneten. Die neuesten Fallbeispiele mit einer erhöhten Sterblichkeitsrate aus Senioren- und Pflegeheimen weisen auch daraufhin, dass die gesundheitliche Betreuung wie die Dichte der miteinander lebenden Menschen tatsächlich ein erhöhtes Risiko provozieren. Rund 800.000 alte Menschen werden in Deutschlands Pflegeheimen komplett versorgt. In einer Gesellschaft, die immer älter wird und in einem System der bedingungslosen Produktionssteigerung wie einer absurd erscheinenden Wachstumsgläubigkeit ist es abzusehen, dass alternde Menschen immer mehr von körperlich systemisch bedingten Krankheiten heimgesucht werden und lediglich durch Medikamente, Fürsorge, psychosoziale Betreuung und operative Eingriffe dem Alter entsprechend stabilisiert werden können. Nur so kann ein einigermaßen würdevolles Dasein gesichert werden. Die Frage der Würde und der Ethik des menschlichen Lebens unter den Bedingungen einer pausenlos funktionieren müssenden Arbeitswelt, um die ökonomischen Bedingungen des Kapitalismus innerhalb einer freien Marktwirtschaft erfüllen zu können, ist wesentlicher Bestandteil der Solidargemeinschaft. Die Häufigkeit der Erkrankungen bei älteren Menschen wie auch die daraufhin auftretenden Todesfälle werfen einen wesentlichen Blick auf die Vielzahl von Rentnern mit geringem Auskommen und älteren Menschen, deren finanziellen (Un)möglichkeiten unterhalb der Armutsgrenze liegen. Viele dieser älteren Menschen befinden sich auch zu normalen Zeiten sehr häufig in prekären Lebensverhältnissen. Dazu gehören Rentner, die entweder allein oder zu zweit oder in Einzimmerapartments leben. Sie scheinen laut den veröffentlichten Fallzahlen besonders gefährdet zu sein. Einsamkeit, Depressionen oder Mobilitätseinschränkungen erweitern dieses Spektrum und eine Gesellschaft, die immer noch dem Jugendkult huldigt, obwohl die Demografie andere Ausblicke schafft, sollte nicht in Alters-, Wohlstands- oder politische Meinungsklassen aufgesplittert werden. Freiheit ist auch immer die Freiheit des anders Denkenden, Solidarität ist klassenlos.

Ohne unmittelbar als Globalisierungsgegner abgestempelt zu werden, zeigt die Pandemie schonungslos, wo die Schwachstellen der internationalen Verflechtungen in allen Bereichen des Öffentlichen Lebens zu finden sind. Es geht nicht um ein Zurückschrauben der Globalisierung, weil es zum einem aus pragmatischen Gründen unmöglich ist und zum anderen für die Zukunft des Planeten enorm wichtig ist, dass alle Staaten in einem Netz gegenseitiger Arbeitsteilung, gemeinsam gepflegter Solidarität und Hilfe und schnellster Kommunikationsflüsse miteinander verbunden sind. Aber durch die komplette Verlagerung ganzer Produktionsstätten für Einzelbauteile in Leichtlohnländer der dritten Welt, die für die Endfertigung im Maschinenbau oder in der Computertechnologie unverzichtbar sind, entstanden Abhängigkeiten, die in Krisenzeiten Verzögerungen oder Totalausfälle entstehen lassen, die ganze Volkswirtschaften enorm unter Druck setzen oder gar kollabieren lassen. Das gilt vor allem für  Schwellenländer wie Indien, China, Thailand, Brasilien oder einige Balkanstaaten (Rumänien, Bulgarien, Mazedonien, Serbien). In der Gesundheitstechnologie und Pharmazeutischen Forschung ist es besonders fatal, dass Medikamente und medizinische Hilfsmittel fast nur noch in Ostasien hergestellt werden. Am Beispiel Schutzmasken- und -bekleidung oder Verbandsmaterial lässt sich in der aktuellen pandemischen Entwicklung ablesen, wie riskant oder gar fahrlässig verantwortungslos gehandelt wurde. Die Pharmariesen der westlichen Welt haben die Produktion von Arzneimitteln aus Kostengründen aus Deutschland und Europa nach Fernost verlagert, weil den verantwortlichen Managern, aber auch den Apotheken als Distributeure Profite wichtiger waren. Corona muss als Warnung gesehen werden, denn die nächste Viruspandemie schlummert schon irgendwo in Afrika oder Asien, solange der Mensch die Lebensräume von wilden Tieren durch seinen  Eingriff nicht weiter zerstört und die Gefahr der zoonotischen Übertragungen durch kulturelle Eigenarten wie Verspeisen von Fledermäusen, Schuppentieren, Affen oder Schlangen nicht endgültig gestoppt wird. Diese Maßnahme gilt aber nicht allein zum Schutz der Virenübertragung, sondern auch zum Schutz der dezimierten Wildtiere und um die Rettung der Tropenwälder vor menschlicher Zerstörung in Zeiten der Klimakatastrophe. Inzwischen sind sogar die Tiere in den Zoos bei uns vor der Übertragung des Virus nicht mehr sicher. In der SZ schrieben der Evolutionsbiloge Jared Diamond und der Virologe Nathan Wolfe am 23. März unter dem Titel „Der Virenmarkt“:

„Das Virus, das nach Covid-19 kommt, könnte uns noch viel schlimmer treffen. Die Vernetzung der Weltbevölkerung nimmt zu. Es gibt keinen biologischen Grund, warum zukünftige Epidemien nicht mehrere hundert Millionen Menschen töten und den Planeten in eine jahrzehntelange Depression stürzen könnten wie sie die Geschichte nie gekannt hat.

Dies ist ein Risiko, das sich bedeutend senken ließe, indem wir den Handel mit wilden Tieren beenden. Dieser schritt wäre nicht nur ein Gefallen, den die chinesische Regierung dem Rest der Welt täte. es wäre eine Maßnahme, die den Chinesen selbst am meisten nützte. Denn wie bei Covid-19 wären sie wohl die Ersten, die dem nächsten Virus, das seinen Weg aus dem Wildtierhandel findet, zum Opfer fielen“ 

Aus aktuellem Anlass, wie man floskelhaft zu sagen pflegt, habe ich „Die Pest“ von Albert Camus noch einmal gelesen und war wieder sehr tief berührt, weil mir der Text von Camus zeigt, wie der Mensch in extremen Situationen gezwungen wird, mit seinen Gefühlen, seinen Hoffnungen, seinen Befürchtungen, seiner Einsamkeit, der Isolation oder seiner Angst zurechtzukommen versucht und sich auch unter gefährlichsten Bedingungen mit all seinen Möglichkeiten ans Überleben klammert. Die Wirklichkeit des Ausnahmezustandes zeigt die Absurdität des Lebens in all seinen Facetten und schließlich kam ich zu der Erkenntnis, dass das Leben als solches in der zwangsläufigen Anzahl aller Konvergenzen letztlich absurd ist.

„Aus einleuchtenden Gründen wütete die Pest besonders unter jenen, die die Gewohnheit hatten, in Gruppen zu leben, unter Soldaten, Mönchen oder Gefangenen. Trotz der Isolierung bestimmter Sträflinge ist ein Gefängnis eine Gemeinschaft, und die Tatsache, dass in unserem Stadtgefängnis die Wärter genauso wie die Gefangenen der Krankheit ihren Tribut entrichteten, bewies dies. Vom höheren Standpunkt der Pest aus waren vom Direktor bis zum letzten Sträfling alle verurteilt, und zum ersten Mal vielleicht herrschte im Gefängnis absolute Gerechtigkeit.“

In der FAZ vom 1. April, ich hoffe, dass der Redakteur nicht einem schlimmen Scherz zum Opfer gefallen ist, schreibt Herr Karl-Heinz Paqué (FDP und Naumann-Stiftung) unter anderem folgendes:

„Muss die Globalisierung deshalb eingeschränkt oder zurückgedrängt werden? Die Antwort heißt eindeutig: Nein. Ein Blick auf das wohl gefährlichste Virus unserer Zeit macht klar, warum. Seit den Siebzigerjahren sind über dreißig Millionen Menschen an HIV/Aids gestorben. Eine HIV-Infektion war über viele Jahre ein sicheres Todesurteil. Wenn HIV-Erkrankte heute ein halbwegs normales Leben führen können, ist das der Erfolg einer globalen Forschungsleistung. Wenn Ärzte aus aller Welt ins westliche Afrika reisen, um dort gegen das Ebolafieber zu kämpfen, ist das der Erfolg internationaler Kooperation. Und wenn im Zuge der Corona-Krise Atemschutzmasken, Beatmungsgeräte und Desinfektionsmittel in nur wenigen Tagen um die Welt geschickt werden können, ist das dank unserer globalen Infrastruktur möglich.“

Aber Herr Paqué, haben Sie noch immer nicht geschnallt, dass gerade die derzeitige Corona-Pandemie eine Folge der Globalisierung ist, die sich von China weltweit ausgebreitet hat? Es scheint so, als würden Sie völlig ausblenden, dass die Krise unseres Gesundheitswesens in Zeiten der Coronaseuche gerade wegen der globalisierten Produktionsverlagerung, die vom Neoliberalismus erzeugt wurde und ständig befeuert wird, die wichtigsten medizinischen Grundgüter in den Staaten der westlichen Welt fehlen, weil sie einseitig nur noch in Ostasien, vor allem in China produziert werden und dass wiederum aus kleinlichem nationalen Volkswirtschaftsgründen der Vorrat an diesen unverzichtbaren Schutzmasken und -bekleidungen auf ein „betriebswirtschaftlich“ notwendiges Maß limitiert wurde. Kein vernünftiger und pragmatischer Mensch will die Globalisierung abschaffen, aber jeder sollte nach der Pandemie sein verbrieftes Grundrecht einfordern, als Bürger nicht schwerwiegenden oder gar tödlichen Gefahren ausgesetzt zu werden, weil Profitmaximierung über Ethik und Moral steht. Die Lieferung der Hilfsgüter für die Intensivstationen der Krankenhäuser aus China und Indien funktionierte zunächst gar nicht und erst seit einigen Tagen gelangen vor allem die wichtigen Schutzmasken in die Kliniken. Wäre die Produktion in Europa, würden die Hilfslieferungen wesentlich schneller vor Ort sein und die Bevölkerung müsste sich Masken nicht selber nähen, obwohl dieses solidarische handeln als Beispiel zu nehmen ist, dass in der Not fast alles machbar ist. Ehemalige DDR-Bürger aus der Mangelwirtschaft können darüber ein Lied singen.

Wolfgang Neisser 1.April 2020

In den nächsten Blogs: Spenden der Reichen, Flucht der Reichen, Dritte Welt und der Wohlstandstourismus, Schwedens Sonderweg, Politiktalk der Phrasendrescher, Testung auf Antiviren, Epidemiegesetze in den Bundesländern, Chinas Zahlen sind fragwürdig, Trump viral fatal, Bolsonaro legal fatal, Lastenausgleich oder Systemreform, Drama New York, Kultur und Viren

Wenn dieser Blog Anklang findet, würde ich mich freuen, wenn Sie ihn weiterempfehlen. 

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Heute lese ich jeden Tag die SZ* und im Internet versuche ich außerdem täglich die für mich wichtigsten Meldungen mit der Lektüre der FAZ*, ZEIT, Freitag, taz*, Neues Deutschland und Spiegel abzugleichen, allein um Meinungen, Meldungen und „sogenannte“ oder nachweisbare Fakten in der Recherche zu überprüfen und so nah wie möglich an ein objektives Bild des Geschehens zu gelangen. Diese Lektüre ist für mein gesellschaftlich und politisches Engagement innerhalb meiner Arbeit als Künstler enorm wichtig, um im Nachhinein Texte und Inhalte gestalterisch in Bilder umzusetzen. (Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Tageszeitung)

Die Weltwoche, eine liberaldemokratische Wochenzeitschrift aus der Schweiz las ich vor allem in den 90er Jahren bis ins neue Jahrtausend und galt immer als Studie des „Blicks von außen“, bis sie von den Blocherleuten oder wie sie in der Schweiz genannt wird, von Freisinnigen im Handstreich rechts umgekrempelt wurde. In meiner Zeit als AD* in der Schweiz gehörte die Weltwoche auch zu denjenigen Presseorganen, die brisante Themen exponiert aufgriff und das Verständnis eines eher sozialdemokratischen Publikums bediente. Zu Zeiten der HIV-Epidemie wurden von  meiner Basler Werbeagentur die Aufmerksamkeit der Weltwoche-Leser mit großformatigen Anzeigen auf die Präventionskampagne „STOP AIDS“ gerichtet. (Die Arbeit an der Präventionskampagne „STOP AIDS“ gehört zu den schönsten Erinnerungen in meiner Zeit als Designer und Art Director, weil neue Maßstäbe in der Kommunikation gesetzt wurden) Seit die Weltwoche vom populistischen Chefredakteur Roger Köppel als bürgerlicher Sturmtrupp der nationalkonservativen und implizit rassistischen SVP* des Multimillionärs Blocher übernommen wurde, habe ich diese Zeitung nicht mehr angefasst.

Als die Woche zwischen 1993 und 2002 in der Presselandschaft auftauchte, wehte ein frischer Wind zwischen den großen Meinungsmachern ZEIT und Spiegel und sorgte gerade wegen der ausgezeichneten Mitarbeiter und Gastredakteure um Chefredakteur Manfred Bissinger durch einen komplett vierfarbigen Druck und einer außergewöhnlichen typografischen Ästhetik als modernes Periodikum für Aufsehen. Es schrieben u.a. Roger Willemsen, Horst Stern, Sigrid Löffler, Michael Jürgs und Jürgen Flimm, die für einen kritischen und aufklärenden Journalismus standen. Aus betriebswirtschaftlichen Gründen und internen Querelen stand die WOCHE im Dezember 2001 vor dem Aus.