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In die Granitfelsen hineingedacht, im Wellental Sinn gefunden.

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Côte d´Armor bedeutet nichts anderes als Küste am Meer, Armor ist das bretonische Wort für die große Wasserfläche, deren Wellen die gesamte Bretagne, ja im Prinzip alle Kontinente umspülen, aber überall andere Bezeichnungen haben. Der Atlantik an der Südküste, im Morbihan nordwestlich der Loirmündung, sorgt für wesentlich höhere und stärkere Wellenberge und -täler als im Norden, wo der Kanal und die Nordsee bzw. die Britsche See als Meere bezeichnet werden, wobei sie ihrer Einordnung gemäß zum großen Teich zwischen Nordamerika und Europa gehören. Im geografisch konnotierten „Religionsunterricht“ des Bildungskanon unterscheiden wir im wesentlichen zwischen Atlantik und Pazifik, die wiederum in Unterkategorien regional bezeichneter Meere unterteilt werden. Um Europa sind wir mit Nordsee, Ostsee, Atlantik und Mittelmeer ausreichend bedient, was für den Reisenden im wesentlichen mit der Höhe der Wellen, der Temperatur und der Tiedendifferenz eine Relevanz hat. Der Tiedenhub an der Nordküste der Bretagne zwischen Ebbe und Flut bricht mit bis zu 15 Metern Unterschied sämtliche Rekorde, wenn bei Vollmond die hohen Wellen aufs Land zurollen und im Rückfluten kilometerweite Meeresböden sichtbar machen. Bei hohen Wellen wird Laune und Körper mit Freude wahrgenommen, es sei denn, das Meer ist nicht allzu kalt. Hier lag die Wassertemperatur in den letzten Wochen um die 17 Grad, es ist erfrischend und wer lieber ein Warmduscher ist, muss eben ein paar hundert Kilometer südlich auf die Suche nach einem Strand gehen, auf dem die Wassermänner und -nixen dicht aneinandergereiht auf ihren Handtüchern herumflätzen. Trotz der wenigen Sandstände im Gegensatz zur Côte d´Azur, gehört die Bretagne zu den beliebesten Feriendestinationen in Frankreich. Es müssen eben nicht immer Bräunungorgien mit Handtuchauseinandersetzungen in gleißender Sonne sein oder Meerestemperturen über 25 Grad.
Ich liebe den Mittelmeerstrand, aber in den Sommermonaten zieht es mich aus erwähnten Gründen nicht in den Süden zwischen Perpignan, Marseille und Nizza.

Wir erleben die Bretagne vorwiegende in Grau am Himmel und in allen Grüntönen auf der Erde – saftige Wiesen und Weiden, dichte Laubwälder mit Eichen, Buchen, Ulmen und Ahorn, hohe Hecken aus Brombeer- oder Ligustersträuchern, in die Höhe strebende Kiefernhaine, Pappelschluchten und als Farbtupfer mittendrin überall Hortensien, violette Heideflächen, Ginstersprenkel und mit rotem Mohn getupfte Kornfelder. Die Impressionisten wußten um die Farbenvielfalt der Natur in Frühlings- und Sommermonaten. Der Himmel ist fast immer bedeckt, die angeblich normalen Wetterverhältnisse, die sich durch einen ständigen Wechsel zwischen Sonne und Wolken mit milden Temperaturen auszeichnen, haben wir vielleicht an 3 oder 4 Tagen erlebt. Guingamp, wo wir jetzt leben, befindet sich auch nicht an der Küste, sondern dreißig Kilometer südlich davon im Landesinnern und scheint ein sogenanntes Regenloch zu sein.

Dafür leben wir in einem schönen und geräumigen Haus in Guingamp, welches ich in einer Nacht- und Stresssituation aufgespürt habe. Dieses bretonische Steinhaus mit einem Obergeschoss ist ein Glück für uns, weil wir in dem sehr komfortablen, aber nicht übertriebenen Ambiente ein Wohlfühldasein der Extraklasse genießen.
Allein der Induktionsherd, wie alle Induktionsherde, ist etwas für Amateure oder Nichtköche, die Angst haben, dass sich irgendjemand aus Versehen die Pfoten verbrennt oder nur Spaghetti und Kartoffeln zu essen pflegen. 10 bis 20 Minuten Kochzeit ist das Maß des modernen Menschen in der Hetze der Zeit.
Kochen und Gas vergleicht jeder Kundige mit einem verliebten Paar und deren erotische Eskapaden oder Katastrophenszenarien. Wer sich mit Gas auskennt, erkennt sehr schnell, dass es schnell herunter- oder aufgedreht werden kann, je nachdem, ob einem das Gericht gelingen soll oder mit einer schnellen Intervention nicht misslingen kann. Das muss man in der Liebe auch können.
Und wir haben Jacques, unseren Vermieter, der sich als Helfer in allen Lebenslagen erweist und mir sogar eine Shiatsu-Massage angedeihen ließ, weil in meinem Rückgrat wieder einmal Nerven, Bandscheiben und Wirbel im Kriegszustand einander bekämpften. Vor dem Haus ist ein Minigärtchen mit Kräutern, das aber beim abendlichen Kochen als Geschmacksreservoir beste Dienste zu geben bereit ist. Wir fühlen uns inside house sehr wohl, wenns regnet können wir arbeiten (es regnete irgendwie immer zwischendurch oder im Dauerzustand) oder wir lesen, recherchieren im Internet oder genießen die Ergebnisse unserer geschmacklichen Höhenflüge. Wir kaufen ein, kochen und schmausen genussvoll, wenn draußen raindrops keep falling on the roofs.

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Nördlich von Guingamp in ca. 30 km Luftlinie liegt die zerklüftete Côte de Rose, eine nahezu unglaublich anmutende Urzustandsregion der Erde mit zahlreichen bizarren Felsformationen, Steilhängen oder aus dem Wasser ragenden Gesteinserhebungen und kleinen Inseln, die bei Sonnenschein zwischen den Farben rosa, dunkelrot und ocker changieren und brillieren. Plougrescant ist der letzte kleine Ort vor dem Kanal, der von einer von Riesen und Meeresgöttern erschaffenen Felslandschaft umgeben ist, die in einer visuellen Verkleinerung des Gesichtsfeldes alle außergewöhnlich geformten Gipfel, Verwerfungen oder Steilwände unseres Planeten in Miniaturform zeigen: El Capitan, Ayers Rock, Garden of Gods, Externsteine, Falaise de la Madeleine oder die lange Anna bei Helgoland. Ein Felspark von 25 Quadratkilometer mit den davor liegenden Sept Îles, einem Naturschutzreservat für seltene und vor allem schützenswerte Vogelarten, kann von der Küste aus beobachtet werden. Wer die Vögel genauer betrachten will, kann gegen Gebühr um die Inseln herumschippern.
Wir haben das Auto schon weit vor der Küste stehengelassen und sind durch diese Fantasiewelt Jahr tausend alter Kraftverschiebungen und vom Meer geprägter Skulpturarbeit gewandert und haben in unseren Unterhaltungen zwischendurch die fiktionale Erwägung diskutiert, hier endlich zu werden.
Wer die zweite Etappe der Tour de France gesehen hat, bei der sich die Helden der Pedalen durch diese Region der Côte d´Armor die Lungen aus dem Leib gestrampelt haben, wird bestätigt gesehen haben, was ich über diese Region berichte. Wer meint, eine Alpenetappe sei wesentlich härter für den austrainierten Radprofi als die Bretagneküste, irrt sich, denn teilweise gab es Ansteigungen von bis zu 18 Prozent, die erklettert werden mussten. Wer als Normalradfahrer, auch mit Training und Erfahrung, eine solche Berg- und Talfahrt meistert, wird am Ende mit heraushängender Zunge, von Krämpfen geschüttelt am Straßenrand liegen. Tom Simpson, Cognac, Ephedrin und die letzten tausend Meter zum Gipfel. Stichwort Mont Ventoux und die Gnadenlosigkeit dieses Petrarca-Berges, dessen Schönheit ich immer wieder bewundern muss, bedeutet eine jedes Maß übertreffende Daueranstrengung, was der Gedenkstein an Simpsons Ableben unterhalb des Gipfels beweist.
Das Hoch und Runter zwischen Lannion und St. Brieuc quält jede Muskelzelle und jedes Lungenbläschen aber ebenso mit einer Folter aller Muskeln, die kein Normalsterblicher aushalten würde. An der Mur de Bretagne, auch einer für die Bretagne höherer Erhebung, endet die Etappe des Rennens.

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Inzwischen haben wir mehrere kleine Städte in unserer Umgebung sowie verschiedene Küstenorte besucht, die bislang sämtlich als pittoresk anmutende Geschichtswahrzeichen mit gotischen Kirchen, Abteien, Schlössern oder mittelalterlichen Bauwerken unser Gefallen gefunden haben, sofern zwischendurch hin und wieder die Sonne geschienen hat.
Ich habe ununterbrochen geflucht, weil die lichtlose An- und Aussicht der Objekte meiner Fotobegierde nur eine Sauce an Farben erzeugte und die Justierungssuche zwischen Blende und Zeit sowie der ISO-Einstellung keine brauchbaren oder gar preiswürdigen Aufnahmen zustande brachten. Aber diese alten Stadtsiedlungen, die heute meines Erachtens nicht mehr als tausend bis 2000 Einwohner zählen, wenn überhaupt, sind sehenswert und Zeugen unserer Vergangenheit und der Entwicklung der Kultur in Mitteleuropa. „Wer kennt die Städte, nennt die Namen, die freundlich uns entgegenkamen?“ Ich nenne sie: Quintin, Plouha, Paimpol, Lezardieux, Triguier, Lanvollon, Lanloup, Lannion, Ploumanach und mit sehr viel Ambivalenz auch St. Brieuc. Warum. St. Brieuc ist zwar die größte Stadt des gleichnamigen Cantons Baie de St. Brieuc, aber auch die gesichtsloseste größere Siedlung in unserer Nähe. Die geologisch-geografische Lage zwischen Meer, Hochplateaus und Schluchten, die von hochragenden Brücken überspannt sind, ist unvergleichlich mit anderen Städten der Nordküste, weil diese Landschaftsformung in dieser Art bislang im Umkreis von 100 km nicht zu sehen war. Im letzten Weltkrieg wurde die Innenstadt wahrscheinlich punktuell zerstört, aber nicht so dramatisch wie Brest, St.Malo oder St. Nazaire, die als Nazifestungen von alliierten Bombern völlig platt gemacht wurden. Die in St. Brieuc nach dem Bombardement entstandenen Lücken wurden in geschmackloser Ästhetik zunächst nach dem Krieg ohne großes Aufhebens provisorisch wieder aufgebaut und später, wahrscheinlich während der 70 er Jahre des letzten Jahrhunderts in betonierter Brutalistik erneut verschandelt. Zwischen gut erhaltenen oder restaurierten Bürgerhäusern klotzten die urbanistisch gestörten Bauentwickler der Stadt, seien sie aus privaten Firmen oder von städtischer Hand gesteuert, hässliche Fassadenkultur aus einer Beton- Aglosteinssuppe, die aus der Schreckenskammer der Architektur in die Lücken zwischen den Häusern hineingezwängt wurde. Wie gehabt, mit der Profitgier der ästhetisch Minderbemittelten, deren Augen an einer Dauerverkleisterung kranken und deren ästhetisches Empfinden verschrumpelt wurde. Um St. Brieuc und dessen Sehenswürdigkeiten oder Ansehnlichkeiten nicht vollkommen subjektiv zu schmälern, muss ich zugeben, dass der Tag dermaßen von Dauerregen überschwemmt und Gräulichkeiten durchdrungen war, dass wir so schnell wie möglich wieder die verschlungenen und vertrackten Zufahrten zur Autobahn N12 suchten und heimwärts fuhren. Für Bretagnebesuchende interessant ist die Tatsache, dass eigentlich keine Autobahnen existieren und doch vorhanden sind, indem die National- und Departementstraßen zwar mit D und N gekennzeichnet sind, aber vier Spuren aufweisen und den Fahrenden mit keinen ärgerlichen Mautstellen finanziell belasten.

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Treguier im Norden der Region Tregor, muss besonders erwähnt werden, weil diese Stadt auf einem Berg oberhalb des Flusses Jaudy im Kern so aussieht, wie zu Zeiten der bretonischen Mönche, Ritter und Konterbanden vom Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert. Allein die monumentale Kathedrale ringt mir angesichts der kleinen Stadt ein zunächst unverständliches Erstaunen ab, aber nachdem wir weitergefahren sind, sehe ich in der Rückschau neben dem mittelalterlichen Gotteshaus, die kolossal erscheinende Größe einer Abtei, deren Mauern fast den gesamten Berg umspannen. Vielleicht ist die Innenstadt irgendwann im 20. Jahrhundert minutiös restauriert worden, was ich an den Unterschieden in einer zeitgeschichtlichen Zuordnung des Mauerwerks der großen gotischen Kathedrale festmachen kann, aber wenn das so ist, bedeutet es keineswegs eine Qualitätsminderung, sondern eine lobenswerte Bereicherung durch die detailgenaue Restaurierung des wuchtigen Bauwerks mit dem spitzen Turm, der filigran mit einem vorgefertigten Muster sehr kleiner, geometrischer Öffnungen durchbrochen ist. Hier haben die Architekten, Maurer, Steinmetze und Statiker eine Leistung der Extraklasse vollbracht, die weitere Jahrhunderte überdauern können.

Das Hoch über den Azoren, immer wieder angekündigt, verfolgt uns seit Wochen oder versteckt sich irgendwoanders zwischen Irland und Cornwall. Auf der Profiwetterkarte von wetteronline kreist es mal um die irischen Küsten oder dreht sich mitten auf dem Meer um die eigene Achse. Laut Meteo Côte d´Armor soll die sonnigere Wetterlage aktuell unser Departement fest in den Krallen halten, wovon wir bis vorgestern wenig gemerkt haben.
Die Grafiken für Wetterkarten sind schön anzusehen, vor allem, wenn sie als kleine Animationsfilme in Bewegung geraten. Sie vermitteln aber für meine Begriffe nur Ungenauigkeiten und zeigen offensichtlich die Unsicherheiten der Wetterpropheten, die sich nicht festlegen können, wo genau Sonne und Wolken sein können. Sonne und Wärme haben an allen Nordküsten einen sehr geringes Verfallsdatum und wer sich auf Prognosen verlässt, strapaziert nur seine Nerven.

Die Ränder des ominösen Hochs über den Azoren, die uns offensichtlich streifen, zeigen nichts von der Kraft der Sonne und der damit verbundenen Sehnsucht nach Wärme. Zwischen Azorenhoch und Atlantiktief liegen wir in einer Art neutralen Zone des Grau und Grauens, in einem Niemandsland der Unwägbarkeiten. Mit Fischen, Austern und vielen anderen Köstlichkeiten und mit intellektuellen Versuchen, das Gehirn nicht schrumpfen zu lassen, lassen sich depressive Anwandlungen oder Zornesausbrüche der heftigeren Art sehr gut vermeiden.

In Guingamp wache ich morgens auf und der Himmel ist bedeckt. An drei Tagen war der Himmel um 8 Uhr schon bleu comme habitude ou dans une personelle desire. Um 11 Uhr morgens vorvorgestern, während ich schrieb, tauchte die Sonne zwar auf, was aber nicht bedeutete, dass sie auch den gesamten Tag über bereit war, eine Freundlichkeit für aktives, künstlerisches Schaffen wie der Fotografie zu zeigen. Ist es nicht ihre vornehmste Aufgabe, ihre Strahlen auf uns zu senden und uns zu wärmen, Vitamin D in uns zu erzeugen und wichtiger noch, ein positiv gestaltetes Gefühl der Freude und gehobenen Laune in einem aufzubauen?

In den hundertjährigen Wetterbeobachtungen, die in jedem Land aufgezeichnet werden, liegt die Niederschlagsmenge in der Bretagne unterhalb der mittleren Messungen in Frankreichs mittleren Regionen, was nicht überrascht, denn der Regen besteht zum größten Teil aus Nieseln und Sprühen, wobei keine außerordentlichen Mengen zusammenkommen. Die Bretagne ist aber in ihrer sprühenden Dauerbenässung kaum zu übertreffen.
Die Stadt Guingamp unterscheidet sich aber von anderen Orten oder metereologischen Messpunkten in der Côte d´Armor mit auffällig hohen Niederschlagswerten um 900 Litern im Jahr, während an den nördlichen Küsten sehr viel weniger Regentropfen im Mengenvergleich gemessen werden. Die außergewöhnliche Lage der nördlichesten Halbinsel Europas liegt im Dauerclinch ozeanischer Kräfte und ist eben ein eher feuchterer Teil des europäischen Kontinents. Hier herrscht exemplarisches Meeresklima, das von notorischen Sonnenanbetern mit Naserümpfen vermieden wird. Jedem das Seine, Italien ist auch eine Halbinsel und wer das Klima dort liebt, kann alles bekommen, was die Bretagne nicht so verlässlich bietet. Nicht ganz, nicht alles. Kennt ihr das auch? Das Wort, der Begriff. Eben noch da und jetzt? Das Gehirn dreht auf, wirft den Turbo an. Ähhh. Machiavelli? Ne. Mankiewicz, Mancelli, Malewitsch, Mascarpone, Quatsch. Maccaferri oder vielleicht Malkowich? Alles falsch. Maccheroni, auch nicht. Weitermachen, morgen vielleicht. Also weiter. Ob ich je das Wort finden werde?

Die Bretagne bietet die besten und saubersten Meeresfrüchte und Fische und vom Nachbarn Normandie bekommen die Bretonen Käse, bei denen jeder Freund bester Genüsse mit Dankesgebeten auf die Knie fällt. Auch der Far Breton, ein Mürbeteigkuchen mit Birnen oder Äpfeln ist eine Köstlichkeit und ein einzigartiges Geschmackserlebnisses, das ich bei einem zufälligen Zusammentreffen nicht verschmähe. Bei einer Durchschnittstemperatur von 14,1 Grad und einem Mittel im Januar bei 8,7 Grad kann keiner erwarten, mediterrane Verhältnisse vorzufinden. Vielleicht, wenn er im Eiskeller bei Bitburger die Maische anrührt oder in der Todeszone der Schweineschlachtung schuftet und zusätzlich an einer Störung im Wärmehaushalt seines Körper leidet.

Keiner muss in die nördlichen Gefilde fahren, aber für Menschen, die es eher moderater lieben und auch Regen ohne Murren und Fluchen in Kauf nehmen, kann die Bretagne die ideale Gegend für Wanderer, Bewunderer gotischer Kirchen aller Größenordnungen und vor allem für Genießer von Meeresfrüchten und -Fischsorten sein. Folkloristische Festivals, Besuche kleinerer Ausstellungen, Märkte und Restaurants gehören in diesem Themenfeld fraglos dazu. Die traditionellen weißen Hauben der Frauen können auch den hartgesottensten Fan aller Nuditäten einen libidinösen Testeseronschub geben. „Salz auf unserer Haut“, dieser Roman von Benôite Groult beschreibt in eindringlichen und ausführlich anregenden Schilderungen die amour fou oder folle zwischen einem harten Kerl aus dem Seemannsproletariat und einer neugierigen jungen Frau aus dem Bildungsbürgertum. In einer Zeit, als ich selbst in einer ähnlichen Situation war, suchte ich in diesem Buch nach Bestätigungen und Äquivalenzen zu meiner Histoire einer coup d´amour. Da prallten Realität, Phantasie und Sehnsucht aufeinander. Wer es nicht kennt, wird es auch nicht verstehen.

Was die Neigung oder das Verlangen nach einer ausgesprochen anspruchsvolleren „Gourmethabitude“ betrifft, sorgen wir lieber für uns selbst und weil ich als ausgesprochener Freund aller (essbaren) Fische und Meeresbewohner rund um den Globus bescheidene Meriten vorweisen kann, brate ich einen Tag Dorade, einen anderen Tag St. Pierre- oder Merluzfilets und zwischendurch gibt es Ragouts aus Tintenfischen mit Gourcettes, Auberginen und Paprika oder eine Plat Fruits de Mer mit Meeresschnecken, Bigorneaus, Muscheln und Krebsfleisch. Nicht außer acht zu lassen sind immer wieder Crevetten, Austern und Langoustinen. In den letzten drei Wochen haben wir so ziemlich alles auf unseren Tisch gezaubert, was in jedem Spezialitätenrestaurant dem Gourmet ordentlich an die Penunze geht. Die Restaurants bieten natürlich die besten Speisen aller Art mit den exquisitesten Gewürznoten, aber erstens essen wir mittags immer nur eine Kleinigkeit, wenn überhaupt, und pflegen seit einiger Zeit, die Hauptmahlzeit vor 18 Uhr einzunehmen. Zweitens eröffnen die in Frage kommenden Wirtshäuser mit Reputation erst immer nach 19 Uhr und zu dieser Zeit findet man oft keinen Platz mehr, der einem zusagt. Wenn überhaupt. Vielleicht sieht die dekorative Form der Speisen aus Profiküchen im Zuge einer allgemein grassierenden Dekorationswelle im Bereich der Ästhetik viel kunstfertiger und viel mehr chi chi aufregender aus, aber letztendlich kommt es auf den Geschmack an und dass man genug auf dem Teller vorfindet, ohne beim Suchen die einzelnen Kreationen hin- und herschieben zu müssen. Früher, als ich viel in Frankreich unterwegs war, besuchten wir die Routiers (Fernfahrergaststätten) an den großen Nationalstraßen, weil das Essen wie Essen aussah und nicht wie eine artifizielle Unantastbarkeit und auch immer nach Essen schmeckte. Zudem traf sich in diesen einfachen Restaurants toute le monde aus jeder Klasse und freute sich über die Reichhaltigkeit der angebotenen Speisen und die Portemonnaie schonenden Preise. Voila.

Als ideale Reisezeit wird Juli und August angepriesen, also die Zeit, wo sich Reisende wie wir kaum noch wohlfühlen können, wenn die Karawane der Mobilhomes und Wohnwagen wie der Automobile aller Art, Größen und Klassen sich über die Straßen wälzen, Stoßstange an Stoßstange, um all die Buchten, Fjorde und Häfen zu überschwemmen, die an der Nordküste ihre eindeutigen Lockrufe über alle medialen Kanäle ausgesendet haben. Im Juni erlebten wir eine erquickliche, leider verregnete Ruhe vor der touristischen Invasion, die spätestens am Montag 1. Juli über die N12 das Land für die schönsten Wochen des Jahres in Besitz oder Besatz nehmen wird. Es ist Freitag und heute ging es schon los. Preisfrage: Wie kann ich einen Hummer in einem Wohnmobil artgerecht zubereiten, ohne anschließend mit Schnittwunden oder fehlenden Fingern ins Krankenhaus gebracht zu werden?

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Bislang hält sich der Ansturm, was ohnehin übertrieben erscheint, auch wegen pandemischer Bedenken vieler, in Grenzen. Das nehmen wir zum Anlass den Sehenswürdigkeiten des Departements eine Visite abzustatten. Die Abbaye Beauport bei Paimpol gehört zu den sehenswerten alten Zeugen der Christianisierung der Bretagne. Einmalig am Meeresufer, oberhalb eines sichelförmigen Strandes gelegen und auf einer leichten Anhöhe gebaut, sind wir im Sonnenschein durch die erhaltenen gebliebenen Gebäude, Ruinenreste und Gärten gewandelt. Ja gewandelt, denn solch ein Ort ringt mir immer eine Hochachtung ab, die nur demutsvoll und sehr ruhig genossen werden kann, auch wenn man als Gnostiker immer etwas Abstand hält. 1212 gegründet, erlebte die Abtei im 13. und 14. Jahrhundert ihre Blütezeit. Mit dem Segen des Papstes erstand das Kloster und bedeutet für Kenner gotischer Baukunst ein Juwel in der großen Zahl der Klöster, von denen aus Nordeuropa missioniert wurden. Die französische Revolution ging relativ grob mit den Gemäuern um und gerade in der katholischen Bretagne schleiften die Jakobiner viele Kirchen und Abteien. Prosper Merimée zeigte schon einige Jahre zuvor in seinen Aufzeichnungen „Notes de voyage dans l’ouest de la France“ größtes Interesse und Bewunderung für die gotische Ausgestaltung des Refektoriums  und des Kapitelsaales. 1790 wurde das Kloster geschlossen und später teilweise von einem gewissen Louis Morand gekauft. Kaum war im Buch der Zeit das Kapitel der Mönche geschlossen, begannen  die Plünderungen und Zerstörungen. Heute gehört Beauport zu den altertümlichen Besonderheiten der Bretagne, die das Interesse für Geschichte und Entwicklung in den vergangenen 1000 Jahren mit neuem Inhalt bereichern und von uns genau soviel Achtung erhalten wie die großen Werken der Künste des 19. und 20. Jahrhunderts. Vom Realismus bis zur expressionistschen Abstraktion.

Wir haben auch das Schloss La Roche Jagu besucht, das sich aber in untertriebener Bezeichnungsdiktatur Herrenhaus nennen muss, wahrscheinlich weil Frankreich die Rangordnung der festgesetzten Hierarchieerbfolgen im Glitzersumpf adliger Titel sehr streng nimmt. Wobei die reichen Bourgeois schon im 19. Jahrhundert dem teilweise verarmten und verlotterten Adel gezeigt haben, dass Herren, Herrchen und Herrschaftszeiten immer von der Fülle des Geldbeutels abhängen. Was wir sehen, würde ich immer als Schloss bezeichnen, weil ich von der Parole geprägt wurde: „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“. Die Größe passt für einen Palast, aber das Château ist eines von vielen Befestigungsanlagen zwischen Bréhat und Pontrieux, die ab dem 11. Jahrhundert errichtet wurden. In dieser Zeit blühte der Handel auf und die Bretagne verwandelte sich mehr und mehr in eine Agrarlandschaft mit Fischfang. Ich muss jetzt aufpassen, um nicht ins Annalena-Syndrom zu fallen und fälschlicherweise „Dem Abkupfern“ zugeordnet zu werden. Inzwischen lauert an jeder Ecke ein ansonsten unfähiger Plagiatsjäger, der wie eine Trüffelsau durch den Text pflügt, um vor Erfolgsgeilheit, einen Faux pas im Geschriebenen zu entdecken. Stefan Weber heisst der Maniac und der Jäger der Abschreibschummler oder auch der Korinthenkacker auf den Spuren populärer Gestalten, vor allem aus der links-liberalen Szene. Dieser Weberknecht sollte die sich mal um Scheuer, Dobrindt, Blume und CSU-Co kümmern. Auch Laschet war an der Uni Aachen als Schummler entlarvt worden, das ist fast schon in Vergessenheit geraten.
Nur soviel zum Schnüffler in den Veröffentlichungen anderer oder zum Jäger der versteckten Fehlerchen: Dieser und andere selbsternannte Hüter der Urheberrechte und des Erstveröffentlichungsdogmas sind Eiferer und Zerstörer, die allen kreativ Schreibenden nicht nur den Blutdruck hochtreiben, sondern auch ein frühzeitiges Grab bereiten können.
Woher, bitte schön, soll ich die Informationen über die mir bislang unbekannte Bretagne herbekommen haben, wenn nicht aus Büchern, Prospekten, Filmen oder dem Internet? Allerdings blieben in meinen Betrachtungen über die Bretagne Kommissar Dupins spärliche Dialoge der Mittelmäßigkeit bei mir unerwähnt. Eine Degeto-Produktion, die sich anmaßt, aus deutscher Sicht, mit deutschen Schauspielern und Regisseuren etc. dieses Land mittels eigentümlicher Kriminalfälle zu beschreiben, die als getarnte Reiseberichte über die Glotze flimmern. Aber das deutsche Fernsehen hat auch Bozen, Lissabon, Kroatien oder Irland in dieser Weise okkupiert und aus unserer Sichtweise klischeehaft zerfleddert.
Hey ihr Besserwisser, muss ich vorher wochenlang in einer Bibliothek herumhocken, um nach dem Wälzen vieler dicker Bücher, irgendeine einmalige Erkenntnis zu gewinnen?

Diese Erbsenzähler der angeblichen Bewahrung der Einmaligkeit erster zu Papier gebrachter Ideen und deren Ausmalung sowie der Fetischisierung des ersten Gedankenblitzes leben als verhärmte Spinnen im großen Netz des Wissens und haben noch nicht begriffen, dass seit dem ersten zur Schriftmaterie gewordenen Denken alles irgendwie plagiiert wurde. Eine Tatsache kann auch in hundertfach unterschiedlicher Schreibweise immer nur das Gleiche feststellen oder versichern. Der Fortschritt der Sprache und des Wissens beruht auf der Weiterverbreitung jeder narrativen Öffnung der Sprache, sei es auf Papyrusrollen, Büttenpapier oder in Handschrift, für alle anderen, die sich als Nachkommen vielleicht mit der gleichen Thematik befassen.

Um das Chateau, das als Herrenhaus politisch korrekt bezeichnet sein mag, aber in architektonischer Einordnung etwas zu groß geraten ist, erstreckt sich eine außerordentlich schöne Parkanlage, die im Laufe der Epochen immer wieder verändert wurde. Nach einem Orkan Ende des 20. Jahrhunderts, der vieles vernichtete, wurde ein bekannter Landschaftsarchitekt beauftragt, einen neuen Plan zu erarbeiten und zu verwirklichen. Das Ergebnis führt einen durch die Vision, domestizierte Natur im Anbau natürlicher Nahrungsmittel und Zierpflanzen in ästhetischer Vollkommenheit, die den Augen eine wohlgefällige Ordnung des kaum zu Ordnenden präsentiert. Dieser Park wurde im neuen Jahrtausend vom Staat mit höchster Anerkennung geehrt und lockt viele Besucher an, die immer wieder mal vor dem Regen in schützende Gebäude flüchten müssen.

Die ausgezeichnete Idee, dass innere Ambiente der mittelalterlichen Mauern mit zeitgenössischer Kunst zu kontrastieren ist ebenso gelungen, wie die Gestaltung der Umgebung. Die Ausstellung, die wir sahen, zeigte eine hervorragend kuratierte Werkschau bretonischer Künstler unterschiedlicher Genres. Ich bin nicht oft begeistert, wenn es um Kollegen-/*innen meiner Zunft geht, aber einige Arbeiten erreichten ein Höchstmaß künstlerischen Könnens. Auch wenn ich die Bilder in die Kategorie ausgezeichneter Werke zur Dekoration von gut gestalteten Räumen einordne, zeige ich meine Hochachtung für diese Meister-/*innen ihres Fachs. Die Lage des Chateau oberhalb des Zusammenschlusses zweier Flüsse und der Ausblick aus den oberen Geschossen über die sattgrüne Landschaft mit Flussgabelung, dessen Vereinigung zum Meer hin immer breiter wird und in einem trichterförmigen Delta endet, vermag auch in der steifsten Gehirnverhärtung einiger Realitätshardliner Melancholie und Wohlgefallen auszulösen. Sehr empfehlenswert. Grüne Politiker könnten hier ihre Gedanken sammeln und sich auf das Wesentliche konzentrieren: die Herrlichkeit einer noch intakten Landschaft.

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Während der Regen auf das Dach prasselte, dachte ich, Angela Merkel ist auch nicht mehr die, die sie einmal war, ja sogar die, die sie von Anfang nicht gewesen ist, obgleich wir es nicht bemerkt hatten oder bemerken wollten, schlimmer noch, die meisten haben die Anfänge ihrer Regierungszeit vergessen, die nunmehr vor 16 Jahren ihren Beginn nahm. Ein Zufall, eine nicht für möglich gehaltene Entwicklung, die für die gesamte alles beherrschende Mannsbrut der CDU den tiefen Fall in die Unwägbarkeit möglicher Karrierechancen bedeutete. Heute fragen wir uns, wie konnte diese Situation entstehen, nachdem wir schon 16 Jahre unter Kohls Birnereien und blühenden Landschaften der Nachtschattengewächse hinnehmen mussten. Kohls Mädchen und Kohls Fatum. Wenn der kleine Armin aus Aachen auch mehr Prozente erreichen sollte als jede/*r andere, muss er sich mit einem lebenslangen Vergleich mit seiner Vorgängerin herumschlagen. Die ökologisch ökonomische Ausrichtung wird sich durchsetzen, auch wenn die Konservativen auf der einen Seite so tun, als wären sie die Bewahrer der Umwelt und des Natur- und Tierschutzes und auf der anderen Seite die Forderungen der Industriekapitäne und Shareholder abnicken.
Immerhin gab es zwischendurch ein Intermezzo der Rot/Grünen mit dem vom Proletarier zum Feudalherrscher aufgestiegenen „Acker“ und seinem Kofferträger „Pflaster“.
Bevor ich mich in Mutmaßungen und geschichtlichen Erbsenzählereien verliere, möchte ich das Augenmerk auf Angela „Angie“ legen. Seit einigen Jahren verursacht mir der Gesichtsausdruck der ersten Frau im Staate Mutmaßungen, die im Bereich der fadenscheinigsten Hypothesen herumirren, aber auffällig genug sind, um darüber einige Gedanken anzustellen.
Von den beiden Mundenden ziehen sich zwei mit der Zeit immer ausgeprägtere Falten bis zum Kinn, die ihrer Erscheinung eine seltsame Ähnlichkeit mit Frankensteins Monster in dem gleichnamigen Film von James Whale verleihen, in dem Boris Karloff das „Monster spielt, also einen aus vielen Leichenteilen zusammengebauten künstlichen Menschen. Aber Halt, das ist keine Verächtlichungmachung unserer Kanzlerin. Natürlich sieht Frau Merkel keineswegs wie Boris Karloff im Film aus, das wäre nicht nur ein hinkender Vergleich, schlimmer noch es wäre eine grobe Verletzung ihrer Persönlichkeit, die ich nicht im Sinn habe.
Ihre Falten erinnern mich an aber die starre Maske des Boris Karloff und ebenso an einstmals im Erzgebirge geschnitzte Nussknacker, deren Unterkiefer mittels einer Hebelbewegung jede noch so harte Nuss zu knacken vermochten. Die obere Hälfte ihres Gesichtes unterscheidet sich fundamental von der Mund-Kinnpartie und diese zweigeteilte Physiognomie ist sehr selten in der menschlichen Mimik zu sehen. In dem Zusammenhang muss ich auch einen der Höhepunkte des Filmplots erwähnen, weil dessen szenische Umsetzung als Metapher auf die letzten 30 Jahre Bundesrepublik zu sehen wäre. Bei der Produktion des Films wurden allerdings erhebliche inhaltliche Änderungen vorgenommen, die zum einen stark von Shelleys Buch und auch von der ursprünglichen Drehbuchfassung abweichen. Eine fundierter Vergleich zu Boris Karloffs starrer Gesichtsmaske würde aber eine überbordende film- und auch zeitgeschichtliche Psychoanalyse nach sich ziehen. Das Wagnis einer Metapher bezüglich des Films und dessen Handlung und der Rolle Angela Merkels in der deutschen Geschichte nach 1989 und vor allem in den Jahren des Niedergangs der Regierung Kohl einzugehen, würde jeden Leser überfordern, zumal eine gehörige Portion absurder Phantasie dazu nötig wäre. Die Folgen des Parteispendenskandals und der gnadenlosen Aussortierung aller in Frage kommenden männlichen Kandidaten für die höchsten Ämter im Staat sind zwar sehr aufschlussreich, was Merkels enorme politische Energie und Taktik verdeutlicht, aber auch die vielen Fälle und Zufälle des inneren Systems CDU in einem besonderen Licht erscheinen lässt. Mit Kohl wurde die ehemalige DDR wie ein abtrünnige Schwester in die Familie Bundesrepublik wieder aufgenommen und ihrer Versuche selbstständig zu existieren, endgültig beraubt. Dem Unrechtsstaat, wie es damals formuliert wurde, wurde großmütig verziehen und vielen seiner politischen Führer meistens zurecht der Boden unter den Füßen weggezogen. Aus der BRD wurde Deutschland, ein völlig neuer Staat, den es bis dahin nicht gegeben hatte (Deutsches Reich bis 1945). (Ich sage ausdrücklich Bundesrepublik, weil der Osten, die ehemalige DDR, nach 1989 in das bestehende System der Bundesrepublik einverleibt wurde und seitdem deren Bewohner in einer Art kollektiven Persönlichkeitsspaltung die systematischen Eigenheiten des neoliberalen Westens übergestülpt bekommen haben. Das geschah alternativlos, wie es immer verschwommen erklärt wird, dass die Menschen zwischen Ostsee und tschechischer Grenze, die vierzig Jahre lang eine eigenständige Lebensform innerhalb der politischen Verhältnisse mehr oder weniger zwangsläufig entwickeln hatten, alle Regeln der BRD und Marktwirtschaft übernehmen mussten. Was zusammengekommen war, was zusammen gehörte, führte aber zu einer auf den ersten Blick nicht sichtbaren Spaltung, die jeder Bürger mit geschichtlichen und soziologischen Grundkenntnissen recht einfach in unbestechlichen Zahlen nachvollziehen und beweisen kann.)
Angela Merkel stammt aus dem östlichen Teil Deutschlands, Templin glaube ich, und machte sehr schnell in der westdeutschen CDU Karriere, da die Partei für die neue Wählerschicht im Osten glaubwürdige und möglichst integre Persönlichkeiten brauchte, die nicht nur eine Authentizität der Ostkultur  und -Entwicklung verkörperten, sondern auch von den Bürgern der alten BRD als Sympathieträger und kommende Kader einer gesamtdeutschen Entwicklung akzeptiert werden konnten. 1989 war Frau Merkel 35 Jahre alt und promovierte Naturwissenschaftlerin (physikalische Chemie), die zwar kurzzeitig mit der FDJ marschierte, aber für alle christlich Konservativen oder CDU-Granden für alle Anforderungen, die für eine neue Politik beider Teile Deutschlands wichtig war, unverdächtig und als unbeschriebenes Blatt galt. Nun ja. Der Rest muss von mir oder anderen entsprechend aller Geschehnisse, Handlungen und Wandlungen für eine Geschichte der Tatsachen durchpflügt werden. Angela, diese von der CDU in expressiver Laune genannte Angie, die Frau im Blazer und der Raute, die zwischen bräsiger Aussitzkultur und abrupten Entscheidungexplosionen hin- und herwogte, die zu den beiden einschneidendsten Regierungssaltos meinte: Ich freue mich, weil es mein Vorschlag war – wir schaffen das. Lapidar, aber wirkungsmächtig. Sie wird im Oktober Geschichte sein, es sei denn die Wahlergebnisse würden rechnerisch keine tragfähige Koalition zustande bringen. Ein Szenario, das zu befürchten ist, sofern alle dabei bleiben, der AfD den Stinkfefinger zu zeigen. Es wird eine neue politische Epoche der Bundesrepublik geben, gleichgültig, wer das Land als Kanzler_/*in anführen wird.

Die nächste Regierungszeit wird die Weichen zu einem Transformationsprozess stellen müssen, auch wenn dieser zunächst wie ein verungücktes Hüpferchen aussehen wird. Die übernächste Periode, ab 2025, wird dann zeigen, ob wir es schaffen oder nicht, sie wird zeigen, ob Demokratie im Inhalt nach, die Macht und der Wille des Volkes sein wird oder in einer Ohnmacht mit künstlichem Koma unter der Knute der Realitätsverweigerer in Gutsherrenart zur Bewahrung ihrer Pfründe das Land dem Klimachaos und der Reichtumsopression überlassen wird.

Wolfgang Neisser – 4. Juli 2021 Guingamp

 

In der nächsten Ausgabe

Das Geheimnis sich in fremden Häusern für eine Weile heimisch und