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Viele Kilometer und hin- und hergerissen

Als der deutsche Komponist Gustav von Aschenbach, am Strand des Lido, jener lang gestreckten Insel, dem zu seiner Zeit mondänen Seebad der Venezianer, nord-östlich von San Marco, wo sich Touristen und Venezianer während der sonnigen Monate im Strandleben treiben lassen, von seinem Liegestuhl aus, auf die im Wasser tollenden Badegäste schaute und wiederum jenen hübschen polnischen Knaben Tadzio anhimmelnd beobachtete, hatte sich schon die Cholera durch seine Gedärme gefressen und ließ mit einem entscheidenden Bakterienangriff dessen entleertes Leben vollends beenden. Lucchino Viscontis Kamera zoomte das verliebt leidende, in sich zusamenfallende Gesicht des der Lächerlichkeit preisgegebenen Musikgenies so riesengroß auf die Leinwand, dass der Zuschauer unmittelbar bestürzt erkennen musste, dass 1911 diese Geschichte in Venedig nicht gut ausgehen würde.

Als wir endlich mit der Transportlinie Alilaguna Blau nach langer Fahrt über die Lagunenkanäle vom Flughafen Marco Polo auf die Anlegestelle des Lido zusteuerten, fiel mir Viscontis Meisterwerk wieder ein, auch weil ich in einer früheren Phase meiner künstlerischen Arbeit das Porträt des von Aschenbach, gespielt von Dirk Bogarde, illustrativ realistisch gezeichnet hatte, um nach der Fertigstellung in einem letzten kreativen Akt die Brillengläser des Musikers mit einem Skalpell herauszuschneiden, um die innere Not der Auswegslosigkeit im verblassenden Leben des Achenbach zu verdeutlichen.

Thomas Mann, selbst kaschiert homophil veranlagt, schrieb den Roman „Tod in Venedig“ in der nationalistisch aufgewühlten Zeit der europäischen Staaten kurz vor dem Ersten Weltkrieg und zeigte in seiner eindrucksvollen Beschreibung die dekadente Clique der sich langweilenden, sich ständig mit allerlei Amüsement und Müßiggang ablenkenden Reichen- und Adelskolonie im Grand Hotel des Bains. Er flocht in alle Szenen eine Todessymbolik und Untergangsmentalität ein, die sich in der Gestalt des vereinsamten Ästheten und vergeistigten Leistungsethikers von Aschenbach zu einem Bild der Verzweiflung kurz vor einer Katastrophe vereinigte. Allein die Überfahrt mit dem seltsam undurchschaubaren Gondoliere von San Marco zum Lido gleicht der in der griechischen Mythologie verankerten Begriff des Todes, indem Charon, der düstere Fährmann der Unterwelt den Fluss Styx zum Hades überquert. Kaum am Lido angelegt, verschwindet der Fährmann in der nebligen Nacht spurlos. Dante versuchte sich in seiner „Göttlichen Komödie“ an einer überraschenden Deutung dieses Mythos, indem die Überfahrt auf dem Fluss Styx nicht in die Vergangenheit führt, sondern in die Hölle der Gegenwart.

In der Person des Komponisten, das alter ego Gustav Mahlers, der in einer Art göttlichem Auftrag die absolute Vollkommenheit in den schwelgenden und betörenden Sequenzen seiner Musik zu erschaffen versuchte, offenbart sich das psychische Zerbrechen des alternden Mannes in einer letzten Camouflage mit gefärbtem Haar und geschminkten Teint. Die lebenslang selbst verleugnete und sich selbst verwährte homoerotische Neigung veranschaulicht noch einmal sein persönliches Scheitern. Gleichzeitig zeichnete Mann mit der sich permanent selbst bespaßenden, im bewusstlosen Zeitvertreib gefangenen und blasierten Gesellschaft der europäischen Adligen und reichen Bourgeois die in sich zerbröckelnde Fassade einer sich selbst überlebten Klasse im Fin de Siecle. Wollte Mann vielleicht sogar mit diesen Eindrücken das Ende der Feudalsysteme vor der prunkvollen Kulisse Venedigs mitsamt des von ihr geschaffenen Reichtums auf dem Rücken aller durch Jahrhunderte Ausgebeuteten verdeutlichen? Von Aschenbach weiß um die aus Indien hereingeschleppte Cholera, behält aber sein Wissen über die drohende Gefahr für sich, um weiterhin die Nähe des androgynen Jünglings aus der sicheren Distanz des heimlich Verliebten zu genießen. Tadzio hüpft im gestreiften Matrosenbadeanzug mit seinen Kameraden in den Wellen herum und setzt sich in seiner juvenilen Attraktivität selbstverliebt in Pose. Ein letztes Winken des kraftlosen Armes und Gustav von Aschenbach stirbt zusammengesunken in seinem Liegestuhl, ohne dass sein Tod von irgendjemand bemerkt wird.

Seit drei Stunden stehe ich wieder einmal an der Lagune und schaue auf die hin- und herwogenden Kolonnen der Touristen, die entlang der Promenade zwischen Giardini und Arsenale die wundersame Inselstadt mit all seiner immer noch verzaubernden Schönheit sinnvergessen zu erobern. Die Abendsonne versinkt als verblassender Schein gelb-orange in einem Dunststreifen hinter der Punta de la Dogana und die Flaneure wie die Hastenden streben in eines der vielen Cafés, Restaurants, vorbei an den leidigen Souvenirbuden, Schnellrestos oder in die rund um den Markusplatz platzierten Boutiquen, Ramschläden oder Kaufhäuser. Die schönen Künste in den zahlreichen Museen und Palazzi haben schon Feierabend, es ist Zeit, sich den abendlichen Genüssen hinzugeben und seinsvergessen in der lauen Abendstimmung der Serenissima mit Aperol Spritz, Vino Grigio oder Spumante den Sinn des Lebens als von Gott gegebene Gabe durch alle Adern und Nerven zu seiner verdienten Ruhe kommen zu lassen. Überall flackern die Retrolooklaternen auf und wieder einmal versuchen zehntausende Menschen aus aller Welt in romantischer Verklärung im Jahrhunderte alten immer noch atmenden Paradies der Nostalgie ihre Sehnsucht nach der verlorenen Zeit aufzuspüren. Ob sie gefunden haben, was sie suchten, ob sie bemerkt haben, dass die Perle der Adria nur noch die hübsche Fassade ist, hinter der sich wie bei einem Potemkinschen Dorf der ständig neu aufgefüllte Warenüberfluss des Turbokonsumismus verbirgt, um das um sich selbst kreiselnde, globalisierte Menschenknäuel, verloren in ihrer Überforderung, Sehnsuchtsfragen der Vergangenheit aufzuspüren. Man möchte von morgens bis abends zufriedengestellt werden.

Alte Paläste werden entkernt und innenarchitektonisch ins 21 Jahrhundert gebeamt und aufwendig originalgetreu restauriert, um Markenartikel, Luxuswaren oder nutzlosen Tand feilzubieten, Gastronomisches aufzutischen oder die unterschiedlichsten Exponate der weltweit redundant erzeugten zeitgenössischen Kunst dem kulturbeflissenen Kunstkenner Anlass zum Grübeln zu geben, ohne dass er in den vielen Konfrontationen des künstlerischen Furors Klarheit gewinnt. Sicherlich, es ist August und die Hochsaison kocht immer noch auf größter Flamme und in ein paar Tagen beginnen die Filmfestspiele auf dem Lido, aber ob sich jeder einzelne Besucher der Stadt bewusst ist, auf welchem Pflasterstrand der Geschichte er sich bewegt, durch welche geschichtsträchtigen Mauern er voranschreitet und welche Brücken der Liebe und Tragik er überquert? Tausend Jahre Dramen und Komödien, Irrungen und Verwirrungen, Hochmut und Gier, vergoldete Epochen gefolgt von Armut und Depression, Aufstieg und Fall, Millionen Schicksale des auf hölzernen Stelzen errichteten Menschenwerks. Der Besucher ist angesichts dieses riesigen aufeinander und nebeneinander aufgetürmten Steinskulpturensembles entzückt und überwältigt, in der nichts etwas Anderen gleicht, keine Tür der anderen, kein Fenster findet seinesgleichen. Alles wurde einzeln von Menschenhand behauen, zersägt, poliert oder mit Farben überdeckt. Alles ist unique und doch wird das meiste wie bei einem Zaubertrick als aus sich selbst erschaffen bewertet.

Der neugierige Besucher fährt mit dem Vaporetto durch den Canale Grande und kann angesichts dieser Flut von Eindrücken nicht nachvollziehen, wie das alles erstanden ist, welche erstaunliche Vielfalt der Formen und Farben, der Strukturen und Muster, der architektonischen Stile und skulpturaler Verzierungen einander abwechseln und gegenüberstehen, um in der Unordnung der vorausgegangenen Epochen doch eine in sich harmonische Anarchie des Gesamtbildes steinerner Lebendigkeit bestaunen zu können. Der genormten Gesichtslosigkeit und der Diktatur des rechten Winkels moderner Städte entkommen, sieht er ein prachtvoll leuchtendes, die Zeit überdauertes Mosaik europäischer Geschichtsexotik, ein faszinierendes Labyrinth aller Fazetten menschlicher Phantasie und seines daraus resultierenden Erfindungsreichtums. Herausgeputzt oder heruntergekommen, veredelt oder verfallen, reich verziert oder mit schmutzig dunkler Patina, aber immer sieht er ein Märchenland erbaut aus Willen, Können und Energie, erwachsen aus dem unerschöpflichen Ideenreichtum vieler Generationen von Handwerkern, Baumeistern, Ingenieuren, Künstlern und Kaufleuten.

Ich gehe am Ufer des Kanals entlang, als das Wasser der Lagune heftig zu schwappen beginnt und sehe aus den Augenwinkeln die beiden sich nahenden Schlepper, die ein riesiges Kreuzfahrtschiff in die offene See ziehen. Ein weißes Ungeheuer, ein stählerner Mobby Dick der touristischen Endzeit, denn unter den heraufziehenden schwarzen Unwetterwolken des sich dramatisch zuspitzenden Klimawandels wird dieser weiße Wal  zumindest im Mittelmeer keine Zukunft mehr haben, zu groß und zu gefährlich ist der Schmutzausstoß der aus den schräg gestellten Schornsteinen in die Atmosphäre quillt. Unten stehen die Touristen und halten ihre smartphones in die Höhe, um die langsam vorbeiziehende Monstrosität touristischer Unvernunft auf der Basis der ums goldene Kalb tanzenden Mobilitätsfanatiker als Geniestreich menschlichen Hochmuts, sich die Erde untertan zu machen, zu feiern. Die grenzenlose Freiheit, alles kaufen oder leihen oder mieten zu können, ohne Rücksicht auf die Umwelt und die darin existierenden Lebewesen dieser Erde zu nehmen, führte erst zu der globalen Ressourcenausbeutung und Luftvergiftung, die überall auf unserem Planeten einem wuchernden Krebsgeschwür gleich unsere Lebensgrundlagen gnadenlos auffrisst. Oben auf dem Dampfer mit den sieben Stockwerken stehen die Kreuzritter der in den Krieg der Vergnügungssucht ziehenden Spaßgesellschaft und knipsen ihrerseits die in der Abenddämmerung diesig in sich verschwimmende Silhouette der nur noch schemenhaft zu erkennenden Stadt im Meer wie eine Fata Morgana einer romantisch verklärter Melancholie. Nur ein letzter Lichtstrahl lässt einzelne Dächer, Kamine und Türme kurz glänzend aufblitzen, dann wird für diesen Tag der Schalter der hektischen Betriebsamkeit zur Profit- und Spaßmaximierung endgültig umgelegt. Aber mitten in der Menge der am Ufer versammelten gaffenden Menge steht eine kleine Frau, die unentwegt eine Fahne hin- und herschwenkt, auf der geschrieben steht: NO GRANDI NAVI. David Foster Wallace, der amerikanische Schriftsteller, der allzu früh freiwillig aus dem Leben schied, schrieb in seinem unvergleichlich scharfen Essay über das Treiben auf einem Kreuzfahrtschiff: „Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich „Das gewünschte Gefühl beruht auf einer Mischung aus Entspannung und Stimulation, stressfreiem Relaxen in Kombination mit einem touristischen Rahmenprogramm, das es in sich hat, kompromisslosem Service und Bevormundung, die unter dem Begriff «verwöhnen» läuft. Die Kataloge praktisch aller Megalines sind geradezu durchsetzt von dem Wort verwöhnen. Beispiele: «Lassen Sie sich an Bord verwöhnen wie noch nie zuvor in Ihrem Leben … », «… und verwöhnen Sie sich in unserem Wellness-Bereich mit den verschiedensten Saunen und Whirlpools… », «Wir haben uns zum Ziel gesetzt, Sie rundum zu verwöhnen», «Gönnen Sie sich etwas. Warum lassen Sie sich nicht einmal von der milden Brise auf den Bahamas verwöhnen?» Die Tatsache, dass auch für andere Konsumgüter mit jener Verwöhn-Qualität geworben wird, kommt sicher nicht von ungefähr und ist den PR-Agenturen der Megalines auch nicht verborgen geblieben. Sie haben jedoch gute Gründe, voll auf dieses Zauberwort zu setzen, getreu dem Leitsatz «Penetranz geht vor Varianz».

Der weitsichtige Medienkritiker und Zukunftsforscher Neil Postman schrieb schon 1980 in seinem Buch „Wir amüsieren uns zu Tode“:

Wenn ein Volk sich von Trivialitäten ablenken lässt, wenn das kulturelle Leben neu bestimmt wird als eine endlose Reihe von Unterhaltungsveranstaltungen, als gigantischer Amüsierbetrieb, wenn der öffentliche Diskurs zum unterschiedslosen Geplapper wird, kurz, wenn aus Bürgern Zuschauer werden und ihre öffentlichen Angelegenheiten zur Varieté-Nummer herunterkommen, dann ist die Nation in Gefahr – das Absterben der Kultur wird zur realen Bedrohung.

Der G7 Gipfel, welch maßlose Übertreibung, die Zusammenkunft von einigen wichtigen Politdarstellern als Gipfel zu bezeichnen, im ehemaligen Nobelbadeort Biarritz an der Atlantikküste ist wieder auf die Niederungen der politischen Unmöglichkeiten und Machbarkeitsversprechungen zusammengeschrumpft und alle Welt richtete ihre Augen auf die Götter jenes Pseudoolymps, um mit Kommentaren gefüttert zu werden, und irgendwie herauszufinden, wie diese Männer und die eine Frau angesichts der größten Herausforderungen unserer Zeit in Wahrheit ticken und ob man ihnen die Möglichkeit zur Macht der Veränderung aus ihrer Mimik ablesen kann. Trump verkniffen griesgrämig bis großspurig, Macron staatsmännisch alert und Angela Merkel lächelt verborgen wissend, einer Pythia ähnlich, die weiß, dass nichts bleibt wie es ist oder irgendwann einmal war. Die anderen herbeigeeilten Staatenlenker wurden kaum erwähnt, auch weil sie wie Conte oder Abe ihren hausgemachten Schlamassel mit sich herumschleppen. Nur der Boris stach mit seinem Punkprollgelbhaar heraus, auch weil er bemüht war, mit seinen flinken Schweinsäuglein zwischen allen Teilnehmern irgendeinen zu bestechenden Kollaborateur für den Brexit auszumachen. Der brasilianische Regenwald brennt und brennt und inzwischen sind zehntausende Brandherde via Satellit erkannt worden, der Rauch und die Feinstaubpartikel haben das weit entfernte Sao Paulo unter eine schmutzige Rauchglocke gelegt. Man sollte aber vorsichtig sein, alles zu glauben, was in den Medien steht, denn die schön farbig gemusterten Satelittenbilder mit den darübergelegten Grafiken täuschen. Nicht der ganze Urwald brennt, sondern viele tausende kleine Brandherde, manchmal nur einen Hektar groß, flackern immer wieder auf, ein Übel, das seit Jahren zu beobachten ist und auch nächstes und übernächstes Jahr großes mediales Entsetzen erzeugen wird. Im übrigen brennt es ebenso in den Regenwäldern im Kongo und in Angola und jeder weiß, dass diese zentralafrikanischen Staaten der Tummelplatz für die gewissenlosesten Raubritter des Kapitalismus sind, die in der dritten Welt ihr schändliches Unwesen treiben. Natürlich wird das Brandroden oder die Abholzung durch ignorante und klimaresistente Politiker vorangetrieben, deren Ansinnen nur der Erhaltung des Wachstumsgedanken dienen und in dessen Vordergrund immer Profit für die weltweit zockenden Stakeholder steht. In Brasilien hängen die Brandrodungen und Vernichtungen oder Abholzungen der Regenwälder fundamental mit unserer Lebensweise zusammen, weil unsere degeneriertes Konsumieren im Überfluss gerade bei Lebensmitteln erst dazu führt, dass die Schweine und Rinder soviel Nahrung benötigen, dass Futtermonokulturen wie Soja oder Mais angepflanzt werden, um die Überproduktion der Massentierhaltung für den redundanten Konsum erst ermöglich werden zu lassen. Die Profite, die dadurch entstehen, fließen natürlich massenhaft in die Kassen der „new colonialists.“ Der rechtsextreme Bolsonaro, wer auch immer ihn gewählt haben mag, wahrscheinlich waren es paradoxerweise die ausgebeuteten Habenichtse in den Favelas, die bildungsfern auf jedes schöngefärbte Versprechen hereinfallen, hat offensichtlich in der Schule nicht aufgepasst, als es um die Bedeutung des Regenwaldes für das Klima ging, weil auch das riesige Land Brasilien davon betroffen ist. Hinter dem erratischen Präsidenten dieses Landes verbergen sich aber die Agrarfeudalisten der ganzen Erde, die für die Rinder- und Schweineproduktion der westlichen Industrieländer große Flächen an Land brauchen, um massenhaft Sojabohnen zu ernten, damit das Kotelett für 2,50 Euro oder das Steack für 5 Dollar auf jedem deutschen oder amerikanischen Grill oder Teller landen können. Greta Thunberg segelt über den Atlantik und schweigt, was unter diesen Umständen der weltweiten Klimaignoranz wahrscheinlich das Beste ist; sie, die Ikone einer allmählich aufwachenden jungen Generation braucht nur standhaft zu bleiben und das klimaschädliche Verhalten ihrer Eltern und Großeltern permanent in Frage zu stellen und mit ihrer wütenden, aber stoischen Rhetorik einen Teil des Jungvolkes dieses Planeten aufzurütteln. Salvini aber brütet in seinem Büßereckchen, noch scheint er konsterniert zu sein, so einen taktischen Fehler wie das Sprengen der Koalition mit den M5S begangen zu haben und schmiedet Pläne für neue Attacken gegen die italienische Bevölkerung. Laut Aussagen nebulöser Quellen will er einen Marsch auf Rom vorbereiten, schließlich schaffte es Mussolini auf diese Weise Italien 21 Jahre mehr oder weniger unangefochten zu beherrschen. Tatsächlich werden von der Lega Großveranstaltungen geplant, um die neue Regierung der nicht sehr kompatiblen Parteien PD und M5S öffentlich zu diskreditieren.

Wale, die mit Plastikmüll im Bauch getötet werden, bekommen in Japan inzwischen eine shintoistische Seebestattung und Djakarta wird bald als das größte Desaster einer untergehenden Millionenstadt Pilgerort für die stetig wachsende Zahl der Katastrophentouristen zu besichtigen sein. Donald Trump gründet die Liars University und kauft für ein paar Dollar die bankrotten Städte im Rusty Belt auf und lässt nach einem Twittersecessionskrieg das Buch schreiben „The Fat Crime Rust Bell County Conspiracy“. Boris Johnson verhängt in letzter Verzweiflung die „Never Back Stop Doktrin“ zwischen sich, dem Unterhaus und dem Volk und beabsichtigt Greater London klammheimlich an ein Konsortium aus Kathar, Abu Dhabi und der VAR börsennotiert zu veräußern (was de facto schon lange praktiziert wird). Er selbst zieht sich in ein neu geschaffenes Zentrum für „Konservative Schizophrenie“ in den Midlands zurück und verfasst das Pamphlet  „How I took back controll about my tiny dirty Brain“.

In Deutschland, (wobei die alten Bundesländer im Vordergrund stehen) man glaubt es kaum, schließen sich einige tausend Multimillionäre zusammen und gründen einen milliardenschweren Fond zur Rettung des Abendlandes unter demokratischen und republikanischen Voraussetzungen und setzen unter eigener Ägide heruntergekommene Schulen, unbrauchbar gewordene Schwimmbäder, marode Brücken, Straßen und Schienenwege in Stand und gewähren obendrein jedem Staatsbürger, der sich für das Gemeinwohl einsetzt, ein Grundeinkommen von 1600 Euro pro Monat. Illusionär? Da teilen sich die Meinungen, schon vor nicht allzu langer Zeit forderte eine Gruppe Supperreicher, mehr als 50 Prozent an Steuern zahlen zu wollen, um das Gemeinwesen des Staates zu unterstützen und den Industriestandort langfristig zu sichern. Allein, es wurde ihnen gesetzlich untersagt. In einer globalisierten Aktion werden nach und nach folgende Maßnahmen auf die Dauer von mindestens 15 Jahren beschlossen: Kontingentierung der Kreuzfahrt- und Containerschiffe und Umstellung der Antriebsmotoren auf Wasserstoffbasis, um emissionsfrei durch die Weltmeere zu schippern, Verdoppelung der Flugpreise und in Europa das Aussetzen der innerstaatlichen Flüge, Energieverbote für die nächtliche Beleuchtung von Leuchtreklame und anderer gesellschaftlich nicht vertretbarer Energieverschwendung durch Strom, der in die Neonröhren fließt, Innenstädte werden autofrei, Kontrolle über die Verschwendung aller Lebensmittel, Ende der Massentierhaltung, flächendeckender Ausbau des ÖPNV, freie Arzt- und Krankenhausbehandlung, Minimierung aller Produktionen für militärische Güter weltweit, Aufbau einer weltweit vernetzten Recyclingagentur und ein groß angelegtes weltweites Programm zur Reinigung der Ozeane und verseuchter Länder. Unmöglich? Nicht wenn im Gegenzug ein kompletter und radikaler Systemwandel vom Neoliberalismus und der einseitig nur wenige bevorteilenden Marktwirtschaft zu einer demokratisch, freiheitlichen und gerechten Bürgerrepublik vollzogen wird, in der in einer neuen gleichberechtigten Gesellschaft auch Chancengleichheit, Geschlechtergleichheit und Entwicklungsgleichheit eines jeden Menschen gewährleistet wird. Der Bürger, der an der Solidargemeinschaft beteiligte Citoyen, muss der Entscheider sein und damit verweise ich auf David van Reybroucks Streitschrift „Gegen Wahlen“, der ein ganz neues Konzept für eine demokratische und vor allem partizipative Demokratie als regulative Bürgerverantwortung skizziert hat. Die Demokratie der Postdemokratie ist ausgehöhlt, erodiert und wird von wenigen Superreichen und Supermächtigen als Selbstbedienungsladen und aus egomanen Motiven missbraucht. Wäre es denkbar, das System neu zu denken, vom Kopf auf die Füße zu stellen und eine Art Soziokratie zu schaffen, die auch Solidarismus genannt werden könnte? Dabei denke ich an ein System, in der nicht Lobbyisten, Aktionäre, Bürokraten, Finanzjongleure und Juristen die Politik dominieren, sondern in ihren jeweiligen Spezialgebieten herausragende Volksvertreter mit der Sachkenntnis, die gebraucht wird, um ökologisch und ökonomisch sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Zunächst werden in einem Losverfahren ca. 1000 Menschen aus allen Schichten, Berufen und Religionen bestimmt, die dann in einem weiteren Abstimmungsverfahren engagierte Kader wählen, die zeitlich befristet die Verantwortung für die jeweiligen Ressorts übernehmen. Sie werden mit Befugnissen (nach checks and balances zur Verantwortung gezogen) ausgestattet, um nur im Interesse ihrer Wähler handeln zu können. Wie schon Machiavelli forderte, sollte jeder Bürger so viel verdienen oder Vermögen besitzen, wie es für ein Leben in Würde ausreicht und der Staat muss sämtliche finanziellen Mittel erhalten, um zum Wohl der Solidargemeinschaft alles tun zu können, damit überhaupt ein funktionierendes und gerechtes Verteilungssystem durchgeführt werden kann. Während die Vermögenssteuern erhöht werden, müssen gleichzeitig auch die Löhne steigen und die Preise für alle lebenswichtigen Güter, die erzeugt werden müssen, in ein gerechtes Preis/Leistungsverhältnis gebracht werden. Alle Produkte, die direkt oder mittelbar den Raubbau an der Natur forcieren, werden so weit wie möglich quantitativ begrenzt und permanent kontrolliert. Der Wert von Lebensmitteln muss nach Qualität und Umweltverantwortung eingestuft werden und nicht nach Menge und Profitdenken.

Solange aber die Staaten und Blöcke gegeneinander zum Schaden ihrer Bevölkerungen und wiederum zum Schaden der Weltbevölkerung Politik und Wirtschaft hegemonial nationalistisch agieren und solange es keine international verbindlichen Abkommen gibt, die wie die UN mit großem Aufwand lediglich die ökonomische und finanztransaktionelle Regulierung wie die ökologische Rettung der gesamten Erde ohne wenn und aber vorantreiben, solange müssen wir mit der schon waidwunden und um sich schlagenden, bösartig gewordenen Chimäre der marktwirtschaftlichen „Demokratie des mit bloßem Auge zu sehenden Untergangs“ von heute leben. Die Ziele sind bekannt, aber es ist fraglich, ob sich die Staatenlenker, Superreichen, Wissenschaftler und im Prinzip die freien und souveränen Bürger bis 2050 zusammenraufen können, um eine lebbare Zukunft möglich werden zu lassen. Noch stehen die Zeichen schlecht.

Venedig Ende August bedeutet Überfüllung durch Tagestouristen, die per Zug, Auto oder Kreuzfahrtschiff anreisen, um mal den Markusdom mitsamt dem großen Platz und dem Campanile, die Biennale und die Filmfestspiele auf dem Lido zu bestaunen. Dieses Jahr sorgen sehr heiße Temperaturen aktuell für eine Schwüle, die aus der Lagune gesaugt wird, so dass der kunstbeflissene Besucher schon nach ein par hundert Metern in schweißnassen Klamotten umherläuft. Montags ist auch in Venedig fast alles geschlossen, was in irgendeiner Weise Kunst gleich welcher Art präsentiert, allerdings haben einige Palazzi in der Umgebung des Canale Grande geöffnet und zunächst fiel die Wahl auf die Ausstellung „Pelle“ von Luc Tuymans im Palazzo Grassi, diesem wunderbaren Bauwerk aus dem Spätbarock mit Hinweisen auf den kommenden Klassizismus, das sich der französische Supermilliardär François-Henry-Pinault 2006 unter den Nagel gerissen hat, um auch in Venedig einen kleinen Teil seiner riesigen Kunstsammlung sich und einem gesichtslosen Publikum darzubieten. Für mich bedeutet alles, was entlang des Canale Grande für das Romantikbedürfnis der Vergangenheitsanbeter aufgehübscht rekonstruiert und millionenschwer vor dem Zerfall geretteten Renaissance-, Barock oder Klassizismusbauten aufgekauft wurde, inzwischen eine no-go-area, um in mir Unmut und Nervenkrisen zu vermeiden. Der Rummel und die sich vorwärts drängelnden Touristen entwerten meines Erachtens, all das einzigartig Schöne, was einstmals unter schwierigsten Umständen dort erbaut wurde. Mit Freude sehe ich aber die kleinen Fahnen an den Fenstern „NO GRANDI NAVI“, die den zerstörerischen Unsinn der Kreuzfahrtschiffe wie die mafiösen Strukturen in der Lagune anprangern. Die Häuserfront entlang der Ufer links und rechts des Canale sind schnell als pittoreske Attrappen enttarnt, vorne hui und hinten pfui. Alles, was nach exzellenter Bau- und Handwerkskunst der goldenen Zeiten Venedigs aussieht, verbirgt Hotelbetten, weiß gedeckte Restauranttische, Prada, Gucci, Lagerfeld und Benetton, Galerien, Zweit-/Drittwohnsitze irgendwelcher Ölprinzen, Schauspieler oder Oligarchen, Spielcasinos, Diskotheken und sehr viele Räumlichkeiten für Mieter auf Zeit, die die Auswüchse der inzwischen nur noch Profit gesteuerten Sharing Economy nutzen. Die Ameisenstraße zwischen San Marco und dem Bahnhof der Ferrovia bzw. der Piazale Roma meide ich schon seit langem, weil hier wie weltweit die gleiche Konsumballung zwischen Fressbude und Markenartikler entstanden ist, über die die Touristen hintereinander herkrabbeln, in der Annahme, dass man hier alles finden könnte, was Venedig zu bieten hat. Vorsicht bei den diversen Schnellrestos, denn hier wird Geschmack und Gesundheit aufs Äußerste strapaziert. Wir sind am Palazzo Grassi verabredet, um uns zu vergewissern, ob sich Tuymans immer noch als der Meister verwischter Blässe mit kleinen gesellschaftskritischen Spitzen präsentiert. Seine Bilder gehen in dem geschichtsverwöhnten, von dezentem Prunk ausgestatten Palast unter und ich vermute, dass sich mancher Besucher fragt, was muss noch geschehen, um Kunst innerhalb der zeitgenössischen Kunstszene als Abgesang der Ästhetik zu inszenieren. Damien Hirst setzte 2017 mit dem Spektakel „Treasures from the wreck of the unbelievable“ auf popkulturellste Ausfmerksamkeitshascherei, vorher 2015 musste ich feststellen, dass das Oevre von Martial Raysse überraschend erfrischend wirkte und 2013 lag der tiefere Sinn mit den riesengroßen Orienteppichinstallationen des Rudolf Stingel, der mir schon einmal in der Nationalgalerie in Berlin aufgefallen war, offensichtlich nur in den filigran gestalteten Ornamentalmustern der Knüpfmanufakturen und in der vollmundigen Erklärung eines  Kurators. Zumindest schonte diese innenarchitektonische Variante wenigstens meine Schuhsohlen. Tuymans „Pelle“ (die Haut) erinnerte mich an die vielen von Sonne, Wind und Regen verblichenen Wahlplakate in verlassenen Dörfern Siziliens. Für einen Montag der verordneten Kunstabstinenz reichten Tuymans Kunsterzeugnisse, um nicht völlig geistig auszutrocknen. Die anschließende Gewissheit, dass zumindest meine Fotos nicht unterbelichtet waren, beruhigte mich und die anschließend verzehrten Spaghetti Vongole verblassten zumindest im Geschmack, weil der Koch offensichtlich entscheidende Gewürze vergessen hatte.

Giardini, wie melodiös das klingt, eine Arie verbaler Lobpreisung der Natur, „Jardieniee“, bei diesem Namen blüht jede Phantasie auf, da hört man die Caprifischer und Eros Ramazotti im Duett. Die schönste Einladung in die Kunst der Biennale ist die Allee zwischen dem Garibaldi-Denkmal an der gleichnamigen Straße und dem kleinen Park vor den aneinander gereihten roten Tickethäuschen der Giardini, wo einem für 20 Euro Einlass in die große Kunstshow verkauft werden. Es ist Mittwoch, den Dienstag habe zumindest ich ausgelassen, weil das Gesamtkunstwerk meines strapazierten Körper offensichtlich im Bereich der Patella Verschleißspuren aufwies und dringend im Ruhemodus geschont werden musste.

Die Meute stürmt das Einlasstor und okkupiert sogleich die linker Hand liegenden Pavillons der Spanier, Belgier und Holländer, das ist die Chance ohne Drängelei durch den großen Gesamtpavillon zu laufen und die dort ausgestellten Exponate zu inspizieren. Als Fotograf kann ich mich leider weniger um die Inhalte der Kunstwerke kümmern, da es schon genug Arbeit bedeutet, die Fotos so perfekt wie möglich in die Kamera zu bekommen, freihändig in der Meute und ohne die Möglichkeit ein Stativ aufzustellen. Ich kann aber vor jedem Besuch für mich sagen, ob mich das Bild oder die Skulptur oder die Installation anspricht, ob es für mich einen ästhetischen Wertmaßstab erkennen lässt oder so beliebig oder überflüssig ist, dass ich mir nur Gedanken über Belichtungszeit und Blende zu machen brauche. Als Künstler kann ich relativ schnell beurteilen, ob meine visuelle Wahrnehmung einen positiven Nachhall hat oder ob ich nur Unverständnis aufgrund der Machart oder stilistischen Umsetzung verspüre. Bei jeder Kunstausstellung wie auch bei der Biennale wird jedes Kunstwerk im Sinne des Künstlers oder des Kurators entsprechend des Mottos der Biennale und der Gesamtwirkung des Motivs so positiv wie möglich vorgestellt. Man sollte bei jeder Ausstellung davon ausgehen, dass etwas gehängt wird, was schon von vorneherein von den Verantwortlichen als eher fragwürdig oder nicht akzeptabel eingestuft wurde. Zumindest bei der Biennale in diesem Jahr muss ich mich fragen, ob es nur meine Einbildung ist oder ob es am Konzept des Kurators liegt, dass ich mit der Präsentation der ausgewählten Werke fremdele. Wenn ich aber eine derartige Mammutausstellung fotografiere, kann ich aufgrund der zu leistenden Arbeit nicht unbedingt unmittelbar alles verstehen oder mir schnell eine Meinung bilden, was ich aufnehme, da der Zweck des Fotografierens ein Lichtbildervortrag über die Biennale sein wird. So laufe ich durch das Labyrinth des großen Pavillons und kann lediglich drei Positionen als ausgesprochen gelungen bewerten und kann nach einem Durchlauf froh sein, wenn ich die Exponate aller Räume oder Kojen auf digitaler Basis in meinem Chip gespeichert habe. Im nachhinein, wenn ich abends die Bilder kontrolliere, fällt mir oft ein, dass neben den von mir nach wenigen Blicken favorisierten Kunstwerken, einige weitere Werke das Format haben, auch in größeren Galerien oder Museen ausgestellt zu werden und meines Erachtens deutlich auf aktuelle Konfliktsituationen und Missstände aufmerksam machen. Aus solidarischen Gründen zu allen Menschen, ob sie sich Künstler nennen oder Kunstschaffende, engagierte Einzelpersonen oder Gruppen, die sich trauen, Erlebtes, Fiktives und Wahrgenommnes künstlerisch zu verarbeiten und selbst in einer solchen Monstershow auszustellen, enthalte ich mich einer dezidierten Kritik, die natürlich in meiner Nachbetrachtung nur als subjektiv negativ bewertet werden wird. „Der blanke Neid, die blinde Ahnungslosigkeit, höre ich einige aufjaulen“. Aber das bedeutet nicht, dass ich von meiner Meinung abweiche, dass meiner Ansicht nach, diese Biennale so schlecht wie seit zehn Jahren nicht mehr war. Licht und Schatten gab es immer und es war tatsächlich so, dass man sich immer wieder an den Kopf packte und stirnrunzelnd verständnislos feststellte, dass sich die Kuratoren_innen offensichtlich in ihrer Wahl schwer vergriffen hatten oder dass die benannten Künstler in schludriger Weise die Ehre Ihres Auftrages im Angesicht der Voraussetzungen nicht ernst genommen hatten. Dem großen Pavillon konnte ich mit wenigen Ausnahmen wenig abgewinnen, aber was mir gefiel, werde ich auch benennen, weil es Arbeiten waren, die das Etikett „Arbeit“, „Handwerk“, „Verantwortung“ und ästhetische Überschreitungen mit gesellschaftskritischen Fingerzeigen verdienen. „May we live in interesting times“, so nannte der verantwortliche Kurator Rugoff das Motto des diesjährigen Festivals und jeder, der aufmerksam durch die Pavillons geschlendert ist, soll selbst beantworten, ob dessen Erklärung und Vorgaben von den Künstlern_innen erfüllt wurden. „Künstler sind aufmerksam und sie lehren uns aufmerksam zu sein, dadurch wird die Welt zu einem interessanteren Ort“, so Rugoff im Biennale Art Guide. Ein Kommentar zu dieser Aussage lautet folgendermaßen: Kunst so ist man sich aus kuratorischer Sicht auf der Biennale einig, bietet andere Modelle des Zusammenseins und Zusammenlebens an. Sie stellen Denkgewohnheiten infrage und bieten neue Sichtweisen an. Sie kann mit Sicherheit keine Lösungen liefern, aber Widersprüche erfahrbar machen und kritische Fragen stellen. Umberto Ecos Essay „Das offene Kunstwerk“ und insbesondere der Satz „Kunst muss Fragen stellen, mehr als das sie Antworten gibt“.

Ich bin mir nicht sicher, ob Künstler, Kuratoren, Kritiker, Besucher oder Sachverständige aus deren Perspektive überhaupt in der Lage waren, eine plausible Einschätzung nachzuvollziehen, tummelte sich auf der Biennale als Besucher hauptsächlich die elitäre Mittel- und Oberschicht der reichen Industriestaaten, die es sich leisten können, nach Venedig zu reisen. Nicht nur Venedig ist eine Insel, auch die Biennale ist eine. Um Giardini und Arsenale und die vielen Kollateralausstellungen sehen zu können, muss der Interessierte für eine Woche Aufenthalt inkl. Flug und Übernachtung mindestens 600 Euro hinblättern, Eintrittspreise und Verköstigung müssen gesondert berechnet werden. Die Biennale hat sich im letzten Jahrzehnt immer auch als Anwalt aller in der Welt vorkommenden Fehlentwicklungen wie Armut, Diskriminierung, Ausbeutung, Konsumismus, Migration, Menschenrechte oder jeglichen Formen von Ungleichheit kümmernd aufgeplustert und die eingeladenen Künstler griffen diese brennenden Themen auf, um der Öffentlichkeit zu demonstrieren, dass sie die Finger in all die blutenden Wunden legen können, um eine nachhaltige Reflexionshaltung zu erzeugen. Oft entsteht der Eindruck, dass Kunst als scheinbar ideologiefreies Vehikel benutzt wird, um Elend und Leid zu instrumentalisieren. Aber offen provokativ und radikal investigativ geschieht das selten oder sollte man konstatieren, dass es in einer medial verformten Nutzbarmachung von Meldungen und Meinungen gar nicht funktionieren kann, weil die Informationspolitik vor jeder Veröffentlichung schon eine innere Zensur vornimmt. Wenn schon die us-amerikanische Politik von einem notorischen Lügner lediglich mittels Twitter und Fox News gelenkt wird und ein britischer Premier die alt ehrwürdige Demokratie mittels juristischer Winkelzüge auszuhebeln versucht, muss man annehmen, dass diese Form der informativen Politiksteuerung und -verfälschung nur die Spitze eines Eisberges ist. Viele agierende Künstler_innen bedienen sich aus der großen Wunderkiste ominöser Metaphern, Symbole oder Allegorien, weil eine direkte Konfrontation wie in einem Dokumentarfilm nicht nur allzu platt erscheinen würde, sondern auch individuelle künstlerische Handschrift vermissen ließe. Selbst in jedem konfrontativ gedrehten Antikriegsfilm, dessen Inhalt eine abschreckende Wirkung vermitteln soll, sehen wir aus sicherer Distanz eigentlich nur das, was sich als Grauensdarstellung eindimensional auf einer Leinwand bewegt, durch Schnitte gerafft wird und dramaturgisch aufgepeppt ist. Kein einziger würde den Wahnsinn einer mehrstündigen Bombardierung unter Sperrfeuer in Lärm und Dreck aushalten. Allein eine kurze Doku über den Genozid an den Tutsi mit den Bildern unmittelbaren Abschlachtens Wehrloser ist mir durch Mark und Bein gegangen und bleibt unauslöschlich in meinem Hirn haften. Kein Künstler vermag den Wahnsinn der sekundlich irgendwo auf der Welt stattfindenden Greueltaten so darzustellen, dass eine posttraumatische Störung hängenbleibt. Die „Apokalyptischen Reiter“ von Dürer, das „Floß der Medusa“ von Gericault oder die „Erschütternden der Hölle“ von Hieronymus Bosch mögen zu ihrer Zeit der religiösen Unterdrückung blankes Entsetzen verbreitet haben, aber der heutige Betrachter wird vielleicht eher die Kunstfertigkeit des Malstils, die Komposition der Menschenleiber oder die fremdartige Ausstrahlung des abartig Furchtbaren als längst überkommene Form der Schreckensdarstellung kopfschüttelnd registrieren. Als die Alliierten nach dem Zusammenbruch des Naziterrorregimes deutsche Bürger zwangen, die Greuel der Konzentrationslager in Filmen konfrontiert zu sehen, reagierten viele lediglich mit Unglauben und Befremdung, weil selbst diese dokumentarischen Szenen in schwarz/weiß jenseits ihrer jahrelang manipulierten Vorstellungswelt lagen.

Ich würde mir wünschen, dass sich Künstler_innen mehr denn je direkt politisch oder gesellschaftskritisch einmischen, denn die Welt hat unzählige Baustellen von Mord und Gewalt und zu viele verminte Territorien der Unmenschlichkeit, als dass man sich gerade als reflektierender Beobachter heraushalten könnte. Wolfgang Tillmanns Aktion zum Brexit Referendum oder die klandestin im urbanen Raum geschmetterten Verstörungen eines Banksy bewirken meines Erachtens mehr als jede Form kryptisch verschwiemelter Pseudoanklage, die schon im Frontallappen des Gehirns den Weg alles Vergänglichen gehen.

Deshalb beklage ich, dass die meisten künstlerisch präsentierten Arbeiten auf dieser Biennale abseits des wahrhaftigen Geschehens und der real existierenden Katatsrophenkumulierungen in Metadiskursen und kryptischen Andeutungen nicht nur verpuffen, sondern in einem streng choreografierten Ringelreihen lediglich ihr Tänzchen als ultima ratio sehen und gar nicht bemerken, dass kein Mensch zuschaut. Diejenigen aber, die in sich stets wiederholenden und sich neu entwickelnden Widersprüchen oder prekären Verhältnissen an Leib und Leben unter lebensbedrohlichen Zuständen oder Bedrängnissen leben müssen oder andere, die überhaupt keine Möglichkeit haben, einen Zugang zu den positiven Seiten des menschlichen Daseins zu bekommen, müssen real begriffen werden und nicht dekorativ umhüllt mitten ins Geschehen gesetzt werden. Denn all diese Menschen, ob sie in Koltanminen schuften, Jeanshosen für den westlich Verbraucher künstlich zerreißen und chemisch bearbeiten oder von Todesschwadronen eliminiert werden, werden jetzt und auch in Zukunft aus nachvollziehbaren Gründen persönlich nicht anwesend sein. Auch wenn Chinas Städte protzig im Lichterglanz erstrahlen, wird das Elend und die Ausbeutung der chinesischen Wanderarbeiter oder der Kohlekumpel in den vielen Braunkohlebergwerken noch lange nicht beseitigt sein. Auch wenn der Karneval in Rio aufreizend in explodierenden Farben weltweit über die Mattscheiben läuft, das harte Leben der südamerikanischen Kleinbauern wird aufgrund der Welthandelspreise an den Terminbörsen noch härter und in den Slums herrscht Mord und Totschlag. All diese Bilder, Installationen oder Skulpturen sind nur eine einseitige Projektionsfläche für all diejenigen, die ohnehin wissen müssten, dass diese Welt mit dem Lebensstil der vom Wohlstand Verwöhnten nur unter Ausbeutung und Unterdrückung existieren kann.

Die ca. 300 Biennalen, die es zur Zeit auf der ganzen Welt geben soll, weisen sicherlich unter ehrenvollen Absichten auf die Zustände und Widersprüche der Welt zwischen Nord und Süd, zwischen reich und arm, zwischen Integration und Apartheid, zwischen Unterdrückung und Folter und all den anderen abscheulichen, menschenverachtenden Zuständen hin, ob sie aber irgendetwas in den Köpfen der in großen Museumsschauen Herumirrenden bewirken, was anschließend auch in die Tat umgesetzt wird, erscheint mir zumindest sehr fragwürdig. Genaugenommen sind auch die Künstler, wenn sie nicht gerade aus der ersten Garde rekrutiert werden, auch immer nur Ausgebeutete eines zynisch funktionierenden Weltkunstsystems in der Hierarchie klassischer Ausbeutung.

Damit der Leser nicht ganz leer ausgeht und nicht auf den Gedanken kommt, dass ich der gesamten Biennale nichts Positives abgewinnen konnte, empfehle ich die Künstler_innen  Julie Mehretu und Henry Taylor, einige Sujets von Nicole Eisenmann, die Farbholzschnitte von Christian Marclay, die Tusch- oder die Gemälde und Aquarellzeichnungen von Michael Armitage, die großformatigen Gemälde und Collagen von Njideka Akunyili Crosby und George Condo. Am besten gefiel mir aber, wahrscheinlich weil ich die Arbeitsweise sehr gut kenne und weiß, welcher Aufwand und welche Botschaft dahintersteckt, Tavares Strachan von den Bahamas, von dem ich bis zu diesem Zeitpunkt nichts gehört habe.

„In einer Zeit, in der die digitale Verbreitung gefälschter Meldungen und „alternativer Fakten“ den politischen Diskurs und das Vertrauen, von dem dieser abhängt, zersetzt, sollten wir innehalten, wann immer dies möglich ist, um unsere Aufgabenstellung zu überdenken. Die 58. Internationale Kunstausstellung wird kein Thema an sich haben, sondern eine allgemeine Herangehensweise an das Machen von Kunst und einen Blick auf die soziale funktion von Kunst, die sowohl Freude als auch kritisches Denken umfasst, betonen. Kunstschaffende, die auf diese Weise denken, bieten Alternativen zur Bedeutung der so genannten Fakten, indem sie andere Wege der Verbindung und Kontextualisierung vorschlagen“ Rugoff

Wenn Rugoff und sein Team an Kunstexperten dieses Statement ernsthaft vertritt, dann muss man anzweifeln, ob Venedig, dieses fragile Tourismuseldorado eines immer drohenden Untergangs, der repräsentative Ort zum Beweis dieser Aussage sein kann. 33 Millionen Touristen pro Jahr, deren bloßes Dasein die Sicherheit der Stadt für die Zukunft bedrohen oder Kreuzfahrtschiffe, die die Fundamente der faszinierenden alten Architektur zu unterspülen drohen, zeigen eine andere Wirklichkeit. Die älteste Kunstausstellung der Welt hat viele stürmische Zeiten erlebt, seit die inzwischen zur Mammutausstellung mutierte Kunstshow 1895 ins Leben gerufen wurde. Die Biennale war von Beginn an ein statischer Ausstellungsort, der über die Zeit mit immer mehr nationalen Pavillons bestückt wurde, die einer Siedlung gleich im östlichen Teils der Insel fundamental verankert wurde. Dieses miteinander konkurrierende Nationalstaatkonzept wirkt dem Bemühen der globalisierten Entwicklung Rechnung zu tragen inzwischen wie aus der Zeit gefallen. Auch das Zusammenwachsen der europäischen Staaten wird durch das Wettbewerbskarussel gespalten, weil die einzelnen Nationalschauen der jeweiligen ökonomischen Prosperität geschuldet sind. Für die Auftragsvergebung der reicheren Länder wie Deutschland, Frankreich, Großbrittanien, Schweiz, Canada, Niederlanden, Belgien, Russland, Japan oder den skandinavischen Ländern wird sehr viel Geld in diese Prestigeprojekte gepumpt und der Ausblick auf den Gewinn des goldenen Löwen vermag Künstler wie Kurator und Land zu adeln. Die europäischen Länder verfügen über die meisten Pavillons auf dem Gelände, was aber aktuell nicht mehr bedeutet, dass viele Biennalen Kunst in eurozentristischer oder anglo-amerikanischer Manier ausstellen. Inzwischen gibt es kaum noch ein Stadtquartier, das nicht von anderen nationalen Ausstellern aus den vielen kleineren Ländern ganzen Welt okkupiert worden ist. Jeder zur Verfügung stehende kleine Palazzo, jedes größere renommierte Konsumgeschäft, jede alte Werkshalle und alles, was zu vermieten ist, wird mit Kunst bestückt und alle, die nicht die traditionelle Ehre haben, im offiziellen Teil der Biennale verortet zu sein, mieten sich irgendwo für ansehnliche Summen ein. Litauen, Lettland, Island, Kasachstan, Mongolei, Iran und all die Länder aus Afrika, Asien und Lateinamerika möchten auch zeigen, was sie zur globalisierten Kunst beitragen können und versprechen sich mehr Prestige für ihre vom Westen verzwergten Staaten, was aber vielerorts anzuzweifeln ist.

Ich frage mich, ob das Wrack eines untergegangenen Schiffes, das mehr als 800 flüchtende Afrikaner in die Tiefe riss als so genanntes mahnendes Kunstwerk „Barca Nostra“ irgendeine psychische Reaktion des Mitleids, der Wut oder Bestürzung  hervorruft und denke im gleichen Augenblick an den Mut, den Willen und die Entschlossenheit der Kapitänin eines Seenotrettungsschiffes, die trotz Drohungen, Verboten und Anfeindungen auf eigene Verantwortung wiederum 42 Schiffbrüchige (insgesamt wurden 25.000 Flüchtlinge aus Seenot gerettet) sicher in einen italienischen Hafen gebracht hat, um dann unmittelbar darauf verhaftet zu werden. Wenn wir ehrlich mit uns sind und mit unterstützenden Willen die Veränderung der katastrophalen Zustände im Mittelmeer beenden wollen, besteht kein Zweifel, welches Schiff tatsächlich unter vielen anderen eine „Barca Nostra“ der Hoffnung sein kann. Es sollte das gemeinsame europäische Schiff der Solidarität und des Humanismus sein.

Diese „Barca nostra“ des Schweizer Aktionskünstlers Büchel zu zeigen ist nicht nur fragwürdig, es grenzt auch an Zynismus, das Elend auf dem Mittelmeer auf diese unkommentierte Weise zu instrumentalisieren und als Show zu inszenieren. Eine Skulptur der Schande kann es nicht sein, denn wer die Geschichte dieses Wracks nicht kennt, würde nicht vermuten, dass es ein Todessschiff war. Was würde man sagen, wenn man einen Haufen Kalaschnikows und anderer gefährlicherer Schnellfeuerwaffen auf einen Haufen würfe, kongolesische wie ruandische Flaggen und blutbefleckte Kinderkleider verstreute, um beispielsweise den millionenfachen verbrecherischen Genozid an den Tutsi noch einmal ins Bewusstsein zu rufen, der unter anderen Vorzeichen auch in diesen Zeiten noch virulent ist. Oder sollte man das Camp der verzweifelten Migranten, die bei Calais gestrandet sind und unter unwürdigen Zuständen in der Nähe des Eurotunnels hausen, nachbauen? Aktuell wäre es sogar brisanter, mutiger und rechtschaffener Salvini, Lega und Co (wie die Unfähigkeit der EU-Migrationspolitik) über die nicht mehr zu sehenden Toten im Mittelmeer anzuklagen, sondern über die Ausbeutung der auf Lampedusa Angekommenen zu reden, die durch mafiöse Strukturen und korrupte Politiker auf den Tomatenplantagen in Sizilien und Apulien für Hungerlöhne ausgebeutet werden. Die Tomatenplantagen gehören chinesischen Investoren, die mit ein paar anderen Monopolisten den gesamten Weltmarkt kontrollieren. Es gäbe soviel anzuprangern, was in der Wirkung eindringlicher wäre als dieses Wrack. All das Elend der Welt und all das, was die Menschheit fundamental bedroht wie all das, was Menschen anderen Menschen aus niedrigen Motiven antun, kann man als Künstler anprangern und in einer Art Globalanklage formulieren, aber welchen heilsbringenden Effekt wird das bei den Besuchern auslösen, die in der Spätsommersonne durch das Terrain flanieren? Ich habe vor dem demolierten Schiff gestanden und mich gefragt, ob ich das Schiff fotografieren soll oder nicht. Letztendlich habe ich die Kamera schräg und schief mit erhobenen Arm in die Luft gehalten und abgedrückt. Man muss manche Dinge mit einer kleinen Handbewegung ad absurdum führen, um sie zu entlarven. Da war eindeutig was schief gelaufen.

Gut, dass 20 Meter weiter ein Freiluftcafé ist, wo man sich vom anstregenden Gang durch das Arsenale bei Kaffee, Bier oder Cola erholen kann. Mir fällt ein, dass nach dem verheerenden und Tod bringenden Hurrikan über den Bahamas viele versuchten in die USA zu fliehen, allein Herr Trump will sie nicht aufnehmen, weil sie schwarz sind.

In diesem Sinn hat US-Präsident Bush seine Nationale Sicherheitsstrategie vom September 2002 unter anderem mit den Sätzen eingeleitet:

„Die Vereinigten Staaten werden diese Gelegenheit nutzen, den Segen der Freiheit über den Globus zu verbreiten. Wir werden aktiv daran arbeiten, die Hoffnung auf Demokratie, Entwicklung, freie Märkte und freien Handel in jede Ecke der Welt zu bringen.“

Für jemanden, der ständig auf den Auslöser seiner Kamera drücken muss, ist es schwierig bis unmöglich das Gesehene im Arsenale im nachhinein auch inhaltlich wiederzugeben. Manches bleibt haften und vieles verschwindet im meinem großen Arsenalespeicher der letzten 12 Jahre. Dabei fand ich die langen dunklen Hallen mit den wuchtigen Säulen und dem etwas maroden Dachstuhlgebälk, die im 12. Jahrhundert erbaut wurden und von Napoleon seit 1808  zu einer modernen Werft ausgebaut wurden, immer sehr anziehend. Das aus Sperrholzplatten gezimmerte Labyrinth, welches raumweise der Abgrenzung der einzelnen Positionen der 79 Künstler dient, scheint in meinen Augen allzu einfallslos im Gegensatz zu den lang gestreckten und hohen Hallengänge mit den imposanten Pfeilern und dem offenliegenden Dachgebälk. Hat es zu einer anderen Lösung nicht gereicht oder sollte es Interpretation und geniale Kontrapunktierung zum baulichen Ensemble spannungsreich unterstreichen? Ich musste mich aber belehren lassen, denn die Sperrholzwände ergaben sehr wohl einen Sinne, allein als Künstler wird mir oft der Blick von mir selbst versperrt. Rugoff Konzept, dem Zuschauer jede Interpretation zu überlassen und weder einen white cube, noch eine alte Industriearchitektur zu verwenden, wird durch das banale Sperrholz deutlich unterstrichen.

Es gibt viel zu sehen und wer sich einigermaßen in der Szene des zeitgenössischen Kunstmarktes auskennt, wird einiges wiedererkennen, allerdings werden ihm viele Exponate auch zunächst nichtssagend vorkommen. Dafür gibt es aber Kataloge und Kunstführer und für eine elitäre intellektuelle Gemeinde das Kunstforum, in dem jede Position mit der dazugehörigen Interpretationsanleitung sehr umfangreich beschrieben wird. Wenn sich aber Menschen in diese Ausstellungshallen wagen, die sich bislang noch wenig für zeitgenössisches Kulturwissen interessiert haben oder mit den Darstellungsformen einiger Künstler ad hoc überfordert sind, wird bei vielen sicherlich eine „gefällt mir“ oder „gefällt mir nicht“ Äußerung entstehen, die aber von Person zu Person diametral unterschiedlich ausfallen kann. Alles ist bunt und wirkt für den normativen Wahrnehmungsprozess eines nicht geschulten Besuchers als ungewöhnlich bis exotisch oder aber als unverständlich bis abschreckend. Was ist Kunst, was könnte man eher als Kunsthandwerk bezeichnen und was sieht auf den ersten Blick wie gefällige Dekoration für innenarchitektonisch aufgemotzte Penthouseer aus? Selbst Kenner der Szene und erfahrene Kunstkritiker sind sich nicht einig und die verbalen Geplänkel in den unterschiedlichen Feuilletons zeugen eindeutig, dass sich die wissende Gemeinde irgendwie doch nicht einig ist. Ohnehin sind alle Besucher dem Konzept des Chefkurators ausgeliefert, der zwei Jahre zuvor von einem Gremium ausgewählt oder bestimmt wurde. Rugoff entschied sich, Künstler auszuwählen, die schon in der internationalen Kunstszene irgendwie reüssiert haben und auch wenn der Kurator freie Hand für seine Auswahl hat, erschien mir schon vorher dieses Verfahren als äußerst ausgrenzend und wenig demokratisch im Sinne von Chancengleichheit, die es in der hermetisch abgeriegelten obersten Kunstszene, die man mit einer Pyramide vergleichen kann, nicht gibt. Aber Chancengleichheit sucht man bei den meisten Biennalen und großen Kunstevents meistens vergeblich.

Es gibt keine Empfehlungen, die man machen könnte, weil das aus meiner Sicht der Gesamtschau mit den vielen unterschiedlichen Präsentationsformen nicht gerecht wird und was ich empfehle, würde sicherlich von vielen in Frage gestellt werden. Jeder sollte selbst sehen, nachdenken und entscheiden. Konzeptkunst, Installationen, elektronisch funktionierende Skulpturformen, Malerei, Grafik, Fotografie oder Videoinstallationen wechseln einander ab und man sieht den Umherflanierenden an, dass jede Form der Empfindungsäußerungen möglich sein kann. Von der Ratlosigkeit bis zur Begeisterung, vom Widerwillen bis zur kompletten Ablehnung, obwohl diese Beobachtungen, die ich als Fotograf beim Betrachten der anderen Ausstellungsbesucher gemacht habe, nichts über die Qualität der Kunstwerke oder deren inhaltlichen Wert und dessen Aussagekraft aussagen. Für mich ist die Atmosphäre in den alten Schiffsbauhallen wichtiger als das, was ich an Kunst sehen kann, da ich mich ohnehin überfordert fühle, den einzelnen Künstlerpositionen irgendeinen Wert zu zumessen. Gewöhnlich gefallen mir eindeutige Werke, die eine handwerkliche Qualität vorweisen und deren ästhetische Umsetzung auf mich überzeugend wirkt, aber diese subjektive Beurteilung beruht auf der Tatsache, dass ich eine strenge künstlerische Ausbildung in Grafik, Illustration und Fotografie durchlaufen habe.

Aus der Süddeutschen Zeitung vom 12. September 2019: „Seit dem 18. Jahrhundert, schreibt Piketty, hätten diese Vorstellungen sich stark verändert. Nach einem relativen Ausgleich in den westlichen Sozialdemokratien um die Mitte des 20. Jahrhunderts sei man heute in Sachen Ungleichheit wieder beinahe zu den Verhältnissen des 19. Jahrhunderts zurückgekehrt. Die reflexhafte Verteidigung allen Privateigentums unter Hinnahme wachsender Gegensätze zwischen Arm und Reich sieht der Autor als Reaktion der Gesellschaft auf die labile Weltlage. Die „harte Eigentümerideologie“ („idéologie propriétariste dure“) stelle einerseits für viele einen durchdachten und potenziell überzeugenden Diskurs für die gesellschaftliche Entwicklung des Individuums bereit; andererseits verschleiere sie den harten Kern gesellschaftlicher Inegalität. Thomas Piketty will sein neues Buch als Beitrag zu der Einsicht verstanden wissen, dass ungerechte Vermögensverteilung nie in der Natur der Sache liege, sondern immer gemacht sei und alternative Lösungsmodelle verlange.

„Die Sakralisierung des Privateigentums ist im Grunde eine natürliche Antwort auf die Angst vor dem Vakuum. Sobald man das Drei-Funktionen-Schema zur Ausbalancierung der Macht zwischen Kriegern und Klerus aufgegeben hat, das weitgehend auf einer religiösen Transzendenz beruhte (einer für die Legitimierung des Klerus und seiner weisen Ratssprüche notwendigen Transzendenz), muss man neue Vorrichtungen finden, um die Stabilität der Gesellschaft sicherzustellen. Die absolute Einhaltung des in der Vergangenheit errungenen Eigentumsrechts bietet eine solche neue Transzendenz, die vor dem allgemeinen Chaos schützt und das durch das Verschwinden der Drei-Funktionen-Ideologie hinterlassene Vakuum füllt. Die Sakralisierung des Privateigentums ist gewissermaßen eine Antwort auf das Ende der Religion als ausformulierte politische Ideologie. Auf der Grundlage der historischen Erfahrung und eines auf Beobachtung gestützten rationalen Wissens ist es meiner Einschätzung nach möglich, diese natürliche und nachvollziehbare, aber auch etwas nihilistische, faule und hinsichtlich der menschlichen Natur wenig optimistische Antwort zu überwinden.“

Thomas Piketty – Kapital und Ideologie 2019

Wolfgang Neisser im Dezember, geschrieben im August, und immer wieder umgeschrieben.