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documentaskizzen aus Athen

Vorab sei gesagt, dass alle goßen, globalisiert arbeitenden Kunstausstellungen wie die Biennale in Venedig oder Istanbul oder die großen art-commercials wie die ART Basel, art cologne oder Art Basel-Miami, Rio, Hongkong etc. von Direktoren oder CEO´s geleitet werden, die eigens zu diesem Zweck von den Trägerinstitutionen durch berufene Gremien oder Juries ausgewählt werden. Die Ernennung eines derartigen „Geschäftsführers“, der mit einer weitreichenden Machtfülle ausgestattet wird, ist kein demokratischer Prozess. Bei der documenta, die bekanntlich alle fünf Jahre stattfindet und ursprünglich als eine Präsentation moderner (zeitgenössischer) deutscher und europäischer Kunst nach 1945 galt, ist das ebenso. So drückt jeder Oberkurator oder neudeutsch Chief Executive Officer seiner documenta auch seinen persönlichen Stempel auf. Bei der Biennale in Venedig ist das ähnlich. Diese inhaltliche oder künstlerische Ausrichtung wird von den Medien wie auch von den Fachbesuchern entsprechend begutachtet oder kritisiert. Carolyn Christov-Bakargiev aus den USA, Kuratorin bei der vorangegangenen documenta 2012 wurde von einigen Kritikern in eine esoterische Ecke gestellt, während der deutsche Kurator Roger M. Buergel laut vieler Feuilletons offensichtlich keine besonders bemerkenswerte Ausstellung auf die Beine gestellt haben soll. Wohlgemerkt, das sind Blitzlichter aus der Recherche vieler Presseberichte. Okwui Enwezor und Catherine David galten dagegen als besonders engagiert und profiliert und sollen eindeutige politische wie gesellschaftskritische Akzente gesetzt haben. Wie dem auch sei, könnten derartige Großausstellungen nicht mittels eines Ausleseverfahrens zu einem befriedigenden Resultat führen, indem ein sehr großes Gremium (nach van Reybrouck ca. 100 oder mehr Personen) von Fachleuten verschiedener Disziplinen alle inhaltlichen und organisatorischen Verfahren miteinander vergleicht, abwägt und schließlich per Abstimmung einen Kandidaten zum Chefkurator bestimmt? Diese fachlich renommierten Insider aus Kunstwissenschaft, Medien, Ökonomie, Jurisprudenz, ergänzt durch einige ausgewählten Künstler, könnten so schon im Vorfeld und in ausgiebigen Debatten viele Unwägbarkeiten, Notwendigkeiten, Organisationsfragen aber auch potentielle Eigenmächtigkeiten klären, auf den Weg bringen oder ausschließen. Schließlich müssen danach in der heißen Zeit der Vorbereitung viele Millionen Euros effektiv verwaltet und die Auswahl der künstlerischen Positionen geplant, entschieden und verantwortet werden. Die aktuelle Methode scheint wie ein absolutistisches Dekret eines kleinen achtköpfigen Zentralkomitees aus weltweit als profiliert bezeichneten Museumsleitern und Kuratoren zu sein, die dann in geheimer Wahl aus sechs Kandidaten, deren Namen allen Aussenstehenden nicht bekannt sind, einen herauspicken, den sie für den/die Geeigneste(n) halten. Das Ganze nennt sich Findungskomission und das procedere erinnert an klandestine Krönungsrituale. Ist jemand einmal gewählt oder erwählt, wird ihr/ihm freie Hand zugesichert. Der Vergleich mit den Bayreuther Wagnerfestspielen und der Nennung des jeweiligen Generalintendanten mag für einige hinken, aber Ähnlichkeiten sind nicht von der Hand zu weisen. Bei der Venedig Biennale 2011 drückte Silvio Berlusconi seinen Kumpel den Fernsehmoderator Vittorio Sgarbi als Kurator für den iatlienischen Pavillon durch und das Ergebnis kann als ästhetisches, inhaltliches und unerfreuliches Fiasko bewertet werden. (Auch wenn dort sichtbar wurde, wessen  Geistes(zustandes) die Herschaft des Cavaliere war). Auch die Kür des Vorstandes der Deutschen Bank mag einen in den Sinn kommen, wenn von Entscheidungen und deren Folgen die Rede ist. Die Wahl Adam Szymczyk und die ersten Tage von Athen sagen noch nichts aus, wie Athen und Kassel im Echo der Presse und der Besucher abschneiden werden, aber was jetzt schon sichtbar ist, wird in jeder Hinsicht erinnerungsmächtig sein.

Die documenta wurde nach der vorhergegangenen unsäglichen Verfemung der zu jener Zeit zeitgenössischen Kunst in allen Bereichen durch die Nazi-Diktatur als Neuanfang im demokratisch aufgestellten Deutschland in der BRD gegründet. Mit dem Begriff „entartete Kunst“ und der damit verbundenen Großausstellung im Haus der Kunst in München sowie flächendeckenden Bücher- und Bilderverbrennungen fielen diesem Wahn die heute kunstgeschichtlich geadelten Impressionisten, Expressionisten, Neue Sachliche und erste Abstrakte aus Deutschland zum Opfer. Die deutsche Kunstszene blutete aus, emigrierte, wurde entweder inhaftiert oder sogar ermordet. Die Neuausrichtung aller Kunstdisziplinen durch die braunen Machthaber wird heute als „Blut und Boden“ in Malerei oder Skulptur bezeichnet. Alles, was der kruden und Menschen verachtenden Indoktrinierung im Wege stand, verschwand aus der einstmals blühenden deutschen Kulturlandschaft.

Nach 1945 kehrten einige der Emigranten zurück und viele jüngere, die als Soldaten im Kriegswahn Hitlers ihre Jugend unter grauenhaften Umständen verschwenden mussten, versuchten als Schriftsteller oder Kunstschaffende neue Wege zu gehen und eine freie oder befreite Kunst jeglicher Art in einem zwar zerstörten, aber immer noch fruchtbaren Nährboden einzupflanzen. Sicherlich haben in der Westzone Wolfgang Borchert, Carl Zuckmayer oder Hans Bobrowski, um nur einige zu nennen, die aus dem Bildungskanon bekannt geworden sind, aus literarischer Sicht den Funken entzündet, der dann als Flamme auch in allen anderen künstlerischen Bereichen aufloderte. Allerdings muss zwischen Westen und Osten unterschieden werden. Schreibende, die sich nach dem „tausendjährigen Reich“ eher nach einer überschaubaren Zeit in einem Sozialismus wiederfinden wollten, gingen in die sowjetisch besetzte Zone, unter ihnen so literarische Schwergewichte wie Bertolt Brecht, Anna Seghers, Johannes Becher, Arnold Zweig, Stephan Hermlin oder Stefan Heym. Im Westen, also den Besatzungszonen der Westalliierten entstand  die Gruppe 47, die auch als geistige Elite für Prosatexte und Lyrik die westdeutsche Kultur nachhaltig prägte. Hans-Werner Richter hatte die Idee und in kurzer Zeit versammelten sich viele, die nun endlich das schreiben konnten, was sie wollten und für gesellschaftlich relevant hielten. Immer wieder werden die Namen Heinrich Böll, Paul Celan, Wolfgang Hildesheimer, Günter Eich, Marcel Reich-Ranizcky, Uwe Johnson, Wollfdietrich Schnurre, Ingeborg Bachmann und Martin Walser genannt, auch Günther Grass oder Walter Jens gehörten dazu. Der Aufbruchstimmung folgte bald nach 1949, als sich zwei deutsche Staaten rechtlich und wiederum ideologisch formiert hatten, die Enttäuschung, deren Vorboten schon unter den amerikanischen Besatzern für Entsetzen bei den Linken wie den kulturpolitischen Eliten sorgte. Alte Nazis, im Eilverfahren durch „Persilscheine“ entnazifiziert, saßen bald wieder im Rechtswesen, in der Bildung, in den Wissenschaften und vor allem in der Verwaltung auf den Stühlen, auf denen manche schon vorher gesessen hatten und von wo sie ohne große Hindernisse schalten und walten konnten. Sie wurden angeblich gebraucht, um im Zuge des Marshallplans und der Kreml-Doktrin das geopolitisch wichtige Deutschland im schon begonnenen kalten Krieg aufzubauen und so schnell wie möglich funktionsfähig aufzubauen und aufzubereiten. Die deutsch-deutsche Grenze teilte die Welt in zwei Lager. Die mit Einerstimme-Mehrheit zustande gekommene Adenauer-Ära kann nicht als Zeugnis für einen Neubeginn herhalten, ebenso wenig wie die SED-Diktatur der DDR unter Ulbricht, die nicht weniger zimperlich war.

Die bildenden Künstler standen unter stärkerem Druck. Einerseits hatten die zwölf Jahre unter den Nationalsozialisten einen totalen Kahlschlag angerichtet, andrerseits lag ein traumatisiertes Volk darnieder, das im Prinzip von der Vergangenheit nichts mehr hören und wissen wollten und die mit Arbeit, Essen, Freizeit und einem Visualisierungwunsch nach wertfreier, unberührter und erbaulicher Kunst in die sogenannten Wirtschaftswunderjahre gleiten wollten. In einem eingekapselten Unrechtsbewusstsein, den sie aber weder wahrhaben wollten, noch sich oder anderen eingestehen konnten, wurde jeglicher kritische oder sogar politische  Realismus, ob er naturalistisch, figurativ oder expressiv einherkam, vehement abgelehnt, weil die Nähe zur falschen, pathetisch glorifizierenden Propagandakunst der Nazis sie stets an ihr eigenes Versagen erinnerte. Traditionen waren missbraucht worden, jede Wirklichkeit war in der Verzerrung gelandet und ein Blick zurück verbot sich von selbst. „In „den Westzonen fanden Ruinenmaler wie Karl Hofer, Harald Duwe und Karl Hubbuch im Zuge eines wachsenden Wirtschaftsaufschwungs keine Resonanz, weil der Blick zurück in das Chaos der Zerstörung einfach nicht mehr gefragt war“, meint Karin Thomas (Kunstwissenschaftlerin aus Köln). Hannah Arendt merkte an: „Das totalitäre Regime hat die Menschen dazu abgerichtet,„Alle Fakten können verändert und alle Lügen wahr gemacht werden. Die Nazis haben das Bewusstsein der Deutschen vor allem dadurch geprägt, daß sie es darauf getrimmt haben, die Realität nicht mehr als Gesamtsumme harter, unausweichlicher Fakten wahrzunehmen, sondern als Konglomerat ständig wechselnder Ereignisse und Parolen, wobei heute wahr sein kann, was morgen schon falsch ist.“ (1993, 30 f.; vgl. auch 46 f.)

In diesem Zusammenhang müssen die berühmtesten Maler der DDR Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer, Arno Rinke und Werner Tübke genannt wurde, die aus BRD-Sicht als Regimekünstler heruntergemacht wurden, deren Werk aber heute als ein großes Zeugnis der Kultur des anderen deutschen Staates wie einer in den Bildern versteckten Dissidenz gewertet werden. Tübkes riesiges Rundgemälde in Bad Frankenhausen am Kyffhäuser ist die visualisierte Geschichtserzählung der Deutschen schlechthin. (das gestehen heute sogar konservative Kritiker zu). Der Maler Neo Rauch, ein Schüler der Leipziger Malerschule gehört heute zu höchst bezahlten Künstlern Deutschlands weltweit.

So entstand das, was „abstrakte“ Kunst genannt wurde, was in den USA mit den abstrakten Expressionisten wie dem allseits berühmten Jackson Pollock (action painting) schon große Erfolge feierte. Während in der DDR der sozialistische Realismus von staatswegen gefordert und gefördert wurde, gestalteten Maler wie Willi Baumeister, Ernst Schumacher, Ernst-Wilhelm Nay, Hans Uhlmann, Georg Meistermann, Karl-Otto-Götz, Bernhard Schulze oder Fritz Winter ihre Kunstwerke „nicht gegenständlich“. Als Johannes Grützke in den 60er Jahren seine expressiven, figurativen und vor allem gesellschaftskritischen Arbeiten zeigte, wurde er von einer konservativen Presse zerrissen und von vielen als „nicht gesellschaftsfähig“ abgekanzelt.

Seine Wandbemalung in der Frankfurter Paulskirche gehört für meine Sicht der deutschen Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jhdt. zu den absoluten Meisterwerken. Meines Wissens wurden Grützkes Bilder weder auf der documenta, noch auf der Biennale Venedig ausgestellt.

Die Künstler-Gruppe Quadriga, fand sich 1952 zusammen, stellte in diesem Jahr auch aus und diese, heute als legendär bezeichnete Ausstellung in der Frankfurter Zimmergalerie ist der Beginn des „Informell“ in der Kunst- Geschichtsschreibung. Was bis heute noch als „Moderne Kunst“ vereinfacht und auch oft abschätzig beschrieben wird, beinhaltete das Spektrum „der klassischen Moderne“, „abstrakte“ Kunst dagegen wird als Unterbegriff einer Tendenz gesehen, die den Verzicht auf die Abbildfunktion postulierte. Bezeichnend ist, dass mit der allgemeinen Ablehnung, die die abstrakte Kunst erfahren musste, zu gleicher Zeit das Lehrfach Form- oder Industriedesign an den Kunstfachschulen aufblühte. Der Kunstwissenschaftler Walter Grasskamp sieht in der aktuell immer noch verbreiteten Ablehnung der „gegenständlichen Kunst“ bei vielen Kunstliebhabern oder Menschen mit sogenannten kunstaffinen Vorlieben das „vergiftete Erbe“ des nationalsozialistischen Hyperrealisierungsfuror (Den Begriff nehme ich für mich in Anspruch).

Arnold Bode, Kunstprofessor und Künstler aus Kassel, initiierte 1955 eine Übersichtsausstellung zur „Europäischen Kunst des 20. Jahrhunderts“ und nannte sie documenta. Aus einem Text der Stadt Kassel zur Gründungsausstellung. „Die erste documenta stand im Zeichen der Moderne der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die nach 12 Jahren nationalsozialistischer Herrschaft wieder nach Deutschland zurückkehrte. In dem noch vom Krieg gezeichneten Fridericianum zeigte Bode die großen künstlerischen Gruppenbewegungen und herausragenden Einzelpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts und nahm damit eine erste geistige Standortbestimmung für das Nachkriegs-(West-) Deutschland vor.

Der Schriftzug wurde bewusst in einer nachdankenswerten Visualisierung geschaffen: dOCUMENTA. Gemeinsam mit Werner Haftmann kuratierte Bode den Beginn eines neuen und für die damaligen Verhältnisse revolutionären Ausstellungskonzeptes. Wer sich wundert, warum ausgerechnet Kassel der Geburtsort der documenta wurde, wird in Erinnerung gerufen, dass schon zum Beginn des 20. Jahrhunderts einige bedeutende Ausstellungen in der Stadt durchgeführt wurden. Zudem hat Kassel eine lange Tradition im Hochschulwesen der Disziplin Kunst. Schon 1777 wurde eine erste Akademie gegründet, deren Ende 1931 kam. Nach 1947 entstand die Werkkunstschule Kassel, in der Tradition der Werkschulen und der Bauhausbewegung und war eine der ersten Adressen in Deutschland für alle, die Kunst studieren wollten. Arnold Bode lehrte von 1948 bis 1961 als Professor in Kassel. Seit 1990 ist die Lehranstalt offizielle Kunstakademie im Bundesland Hessen. Zur ersten documeta strömten 130.000 Besucher und ich glaube, dass die danach im Fünfjahresrhythmus folgenden Ausstellungen bis zu der berühmten Szeemann Kuratierung 1972 ihre (ökonomische) Unschuld bewahrt hat. Danach kamen immer mehr Besucher, die Ausstellung wurde größer und größer und somit auch die ökonomischen Zwänge. Heute muss die documenta als temporäres Kunstunternehmen mit Riesenbudget eingeordnet werden, die in vielfacher Hinsicht von Sponsorengeldern und dem ihr zugeteilten Etat der Stadt Kassel und des Landes Hessen vollständig abhängig ist. Wie sich das auswirkt, ist mir unbekannt, aber bei einem derartigen Millionen-Volumen bleiben Systemfragen mit den daraus resultierenden strukturellen Zwängen unausweichlich.

****In diesem Zusammenhang verweise ich darauf, dass diese Beschreibungen die tatsächlichen Bemühungen, Kämpfe und Verwerfungen nach 1945 in diesem Artikel aus Zeitgründen und wegen der Komplexität der Inhalte nur verkürzt und zugegebenerweise vereinfacht wiedergegeben werden können. Wer sich aber dafür interessiert, dem seien Schriften von Hans Belting und Karl-Heinz Bohrer empfohlen (Belting – Weltsprache und Nationalcharakter. Deutsche Kunst – ein Tabu der deutschen Kunstgeschichte. Frankfurter Allgemeine Zeitung 2. November 1991 und Karl-Heinz Bohrer – Über die Rettung der Ironie. Gibt es eine deutsche Nation? [Vortrag zu dem Symposion „Deutschland nach der Vereinigung“ am 4./5.3.1993 in Rom] TaZ, 20. März, 1993). Mir geht es darum, dass ein Bewusstsein entsteht, warum so viele einen Hype um die documenta veranstalten, aber die geschichtlichen und inhaltlichen Bezüge und Verknüpfungen nicht oder nur bruchstückhaft kennen.