2023 Alles muss anders werden

Allgemein

ARLES 2019

Athen

Avignon

Berlin

Corona - Folgen

Filmkritik

In the year 2021 on earth

Kultur und Tourismus

Le Havre

London 2023 Slough

Marseille

Palermo und die Manifesta

Riviera 2020

Schweden Stockholm

Sizilien und Palermo

Südwestfrankreich

Venedig 2017

Venedig Biennale 2019

Athens Chance mit dem Bilbao-Effekt

Der Leiter der „documenta 14“ der polnische Kunstwissenschaftler und Kurator Adam Szymczyk, der von 2003 bis 2014 die Kunsthalle Basel geleitet hat, sprach in seiner Pressekonferenz bei der Einweihung der documenta 14 in Athen 2017, dass er die Athener Präsentation unter das Motto gestellt habe „Von Athen lernen“. Wer sich intensiver mit den Positionen und Ausstellungen vor Ort beschäftigt hat, wird nach einer gewissen Zeit der innerlichen Verarbeitung bemerken, dass Herr Szymczyk offensichtlich die Bedeutung der Kunst und unterschiedlichenlichen Darstellungsformen der hier ausgestellten oder dargestellten zeitgenössischen Kunst mit Installationen, Performances, Digitalkunst und Videos überschätzt hat, wenn er daraus eine Hermeneutik ableitet, die in der Realität zwischen der documenta und den Verhältnissen in Athen (in der Vergangenheit wie in der Gegenwart) nicht miteinander harmonieren können. Natürlich ist es ihm nicht abzusprechen, dass er mit diesem Motto „Von Athen lernen“ aus seiner Sicht und in der Verbindung der documenta-Kunst mit den Athener Verhältnissen oder der griechischen Geschichte eine faktische Verbindung herstellen wollte, aber nach vielen Besuchen der einzelnen Ausstellungskomplexe oder-orte wird nach meiner Beobachtung und einigen Gesprächen mit Athenern wie mit Touristen aus Deutschland und anderen mitteleuropäischen Ländern nicht klar, ob dieses Motto überhaupt in irgendeiner Weise verstanden wurde. Eine genaue Beurteilung dieses Themenkomplexes werde ich allerdings erst zum Ende unseres Aufenthaltes in Athen in allen Facetten beschreiben.

Als ich vor einigen Tagen durch Piräus auf meiner fotografischen Spurensuche gelaufen bin, um dann mit den unterschiedlichsten Transportmitteln wie Metro, Tram und Bussen des Öffentlichen Nahverkehrs zwischen Athen, Piräus und den südöstlichen Vororten wieder zum Syngrou-Fix zu fahren, dachte ich allerdings, dass Athen eine Menge von Bilbao lernen könne.

Als wir letztes Jahr mehrmals in der baskischen Metropole weilten und ich mich dezidiert mit der Geschichte der Stadt wie deren Erneuerung nach dem industriellen und wirtschaftlichen Kollaps beschäftigt habe, fiel mir auf, dass der Prozess dieser radikalen Umwandlung nicht nur über 30 Jahre gedauert hat und aktuell immer weitergeht, sondern wie die Stadt mit Hilfe nationaler und internationaler Investoren öffentlicher und privater Geldgeber dieses Mammutwerk zustande gebracht haben.

Als ich im Jahre 1975 durch Bilbao gefahren bin, damals gab es die Autobahn entlang der baskisch-asturischen Küste noch nicht, habe ich vor lauter Qualmwolken, die die Stadt aus den Hochöfen und Kokereien voller Dreck einhüllten und der totalen Verschmutzung der gesamten Stadt den Eindruck gehabt, in die unwirtlichste Gegend gefahren zu sein, die ich jemals gesehen habe. Dagegen kam mir unser Ruhrpott schon fast sauber vor.

Was hat man aber gemacht, um Bilbao wieder zum Leben zu erwecken, nachdem die Stahl- und Kohlekrise die Stadt in den Kollaps getrieben hat: Man besann sich und schuf zunächst einen Masterplan zur baulichen Stadterneuerung und für die Instandsetzung und Erneuerung der Verkehrsinfrastruktur. Die Wirtschaftspolitik der Stadt zog die richtigen Schlüsse und unternahm den Versuch, neue Wirtschafts- oder Dienstleistungszweige anzusiedeln. Gleichzeitig wurde der Faktor Kultur einbezogen, indem das Guggenheim-Museum in spektakulärer architektonischer Gestaltung durch den Großarchitekten Gehry mitten ins Stadtzentrum gebaut wurde, dort wo eine der größten Industrieanlagen am Fluß Nervion einer Industrieburg gleich gestanden hatte. Jeder, der in dieses Großprojekt involviert war, wusste, dass es ein langer Weg sein würde, dieses Konzept bis zu einem tragfähigen und vorzeigbaren Resultat voranzubringen, aber die Stadtpolitik sah die Chancen und zog mit. Man muss bedenken, dass der baskische Bürgerkrieg in jenen Tagen noch virulent war und bei teilweise kriegsähnlichen Zuständen gegen die Staatsmacht aus Madrid und folgenschweren Bombenattentaten waren manchmal täglich aber eigentlich permanent immer wieder Tote zu verzeichnen. Man wußte aber genau, dass Stillstand, Angst, Lähmung  und Abwarten keine Lösung bedeuten würde.

Die neue Metro wurde gebaut, neue Straßen und Brücken entstanden, die Universität wurde aufgewertet, der Flughafen metropolfähig umgebaut, Großunternehmen der Energieversorgung und Versicherungen ließen rund um das Zentrum des Guggenheim-Museums Bürotürme errichten und die Alhondiga, das ehemalige Weinlager, welches im Stil des Modernismus einst errichtet worden war, wurde baulich im Innern völlig umgekrempelt und sehr innovativ und einladend für die Bevölkerung als kultureller Ort der Zusammenkunft zugänglich gemacht. So entstand ein ausserordentlich attraktives Kulturzentrum, welches ästhetisch in Spanien zumindest seines Gleichen sucht. Die Innenstadt wurde peu a peu behutsam, aber sukzessive generalsaniert, das Fußballstadion von Athletico-Bilbao am Rand der Innenstadt zeigte sich in einem neuen Gewand zeitgenössischer Architekturästhetik und wurde zu einem Tempel für die Gooool-Begeisterten umgestaltet. Überall blies der Wind der Erneuerung durch die Stadt und ließ die Gastronomie, den Shoppingbereich oder das Handwerk im Geist eines pragmatisch visionären Denkens aufleben. Der in Urbanistik und Soziologie gebrauchte Begriff des „Bilbaoeffektes“ war geboren. Es geht weiter in Bilbao und diese Stadt, die einst der Stahlkocherhochburg Spaniens war, zieht dank dieser Veränderungen jedes Jahr Millionen Menschen aus der ganzen Welt an.

Marseille war ebenso gelehrig, als der Stadt die Ehre der Kulturhauptstadt Europas zuteil wurde und hat sich im Zuge dieser hochgesteckten Verantwortung zu einer modernen Metropole am Mittelmeer entwickelt, auch wenn böse Zungen vorher behauptet hatten, dass dieser Stadt eigentlich nicht mehr zu helfen sei. Im Vieux Port kann man sich anschauen, was aus der einst „kriminellen und dreckigen Hafenstadt“ geworden ist und die Marseillaisen können mit recht stolz auf ihre Stadt sein.

Athen könnte einen ähnlichen Weg gehen, wenn Politik, Wirtschaft, Kultur und die europäischen wie auch internationalen Institutionen wie EU oder Unesco an einem Strang ziehen. Was schon vorhanden ist, die Akropolis, das Zappeion oder der Syntagmaplatz wird ohnehin gepflegt, soweit das in der Krise möglich war, aber damit ist es noch lange nicht getan in dieser vier Millionen Agglomeration. Ein radikaleres Umdenken als bisher ist zwingend notwendig und man muss genau da anfangen, wo auch Bilbao die Ärmel hochgekrempelt hat. Die Infrastruktur und das Verkehrswesen sind dringend renovierungsbedürftig, wenn nicht sogar ein totaler Umbau von Nöten ist. Die Touristen lernen im Wesentlichen nur die Viertel rund um die Akropolis kennen, die Plaza unterhalb des Parthenon ist überlaufen, während alle anderen Viertel vornehmlich griechische Menschen oder Migranten aus allen Ländern mit prekären Verhältnissen sehen. Das muss nicht so bleiben, denn die Substanz ist vorhanden wie man am Neubau des Akropolis-Museums und des EMST (Museum für zeitgenössische Kunst) sehen kann. Gerade das EMST, entstanden in der ehemaligen Fix-Brauerei, ist zum prächtigen Museumsbau umfunktioniert worden. Im Süden, schon sehr nahe der Küste bei Piräus, beherbergt das Stavros Niarchos Cultural Centre in einem überdimensionalen Bau die Oper und die Nationalbibliothek und einige andere Kultureinrichtungen, aber ob das Monumentale der Weg sein kann, wird sich herausstellen. Es ist gerade erst eröffnet worden und laut Aussagen der Athener-Innenpolitik wird der gigantische Bau offensichtlich von der Bevölkerung gut angenommen, aber ob es wird wirklich ein Magnet wird wie das Guggenheim-Museum oder die Hamburger Elb-Philharmonie muss sich zeigen. Im Norden ist fast das gesamte, neu erbaute Olympia-Gelände, erst 2004 zu den Spielen in Athen fertiggestellt, verwaist und der Zahn der Zeit beginnt mangels Geld an der weißen Pracht der Calatrava Architektur an denMauern und Plätzen zu nagen und wenn nichts geschieht, wird diese großartige Sportstätte wegen der aktuell entstehenden Baumängel zu einer modernen Ruine. Allein, dass die Olympischen Spiele* der Athener Stadtkasse ein großes Loch beschert haben, scheint nicht genug gewesen zu sein, es sind auch keine Anstrengungen zu sehen, die wunderbaren Sportstätten für die Athener nutzbar zu machen und zu erhalten. Natürlich war nach dem drohenden Staatsbankrott, der Bankenrettung und der drückenden Last der allgemeinen Sparpolitik kein Euro mehr übrig, um gerade diesen Teil Athener Lebens zu pflegen und zu schützen. Es geht in Athen dezidiert darum, Ökonomie, Ökologie, alle Bereiche der gesellschaftlich relevanten Kulturträger miteinander zu vernetzen und in Einklang zu bringen. Der Mensch, ich meine sogar den einzelne Menschen als vernunftgesteuertes Individuum, wird der wichtigste Teil der Kette sein, die neu ineinandergehakt werden muss. Ohne dessen Willen und seiner Motivation, seinen Mut zur Veränderung im eigenen Sinne und derer kommender Generationen wird eine Veränderung nicht stattfinden können.

Einer der ersten Maßnahmen wäre ein komplexes Sanierungsprogramm der städtischen Infrastruktur und eine innovative Stromversorgung durch einen bezuschussten Plan, die Flachdächer der Athener Häuser (und sie sind fast alle flach), mit Sonnenkollektoren zu bestücken. Allein die Ersparnisse der Energieversorgung wäre enorm und könnte für andere Maßnahmen eines Umbaus der gesamten Stadtinfrastruktur genutzt und eingesetzt werden. Wenn ich von meinem Balkon auf die umliegenden Dächer schaue, ich kann sehr weit sehen, weil wir im 5 Stock wohnen, sehe ich viele horizontal liegende Wassertanks (ca. 100 Liter) auf Rohrgestelle montiert, die wiederum von einer unter ihr quer stehenden Solarzelle von ca. 1 qm beheizt werden. Dieser Ansatz, wahrscheinlich von jedem Mieter oder Eigentümer selbst finanziert, ist ein hoffnungsvoller Ansatz, die reichlich vorhandene Sonnenenergie sinnvoll zu nutzen. Diese zukunftsweisende Idee, die Dächer der Stadt nutzbar zu machen, könnte aber noch weiter und flächendeckender für die gesamte Stromversorgung der Haushalte eingesetzt werden. Dächer, die nicht für die Sonnenenergie genutzt werden, könnten begrünt werden und sich so durch die natürliche Umkehrosmose positiv auf das Stadtklima auswirken. In den Niederlanden habe ich in den Städten Rotterdam und Den Haag einige Beispiele der vertikalen Fassadenbegrünung gesehen und glaube, dass diese Methode eine innovative Facette des umweltfreundlichen Bauens oder Restaurieren werden könnte.
Zudem müssten die Dieselfahrzeuge und alles, was mehr Dreck aus den Auspuffen freisetzt als gesetzlich erlaubt und vor allem gesundheitlich erträglich ist, drastisch aus dem innerstädtischen Verkehr verbannt werden, um im Sommer, wenn der Smog die Stadt in eine Dunstglocke einhüllt, die Luft sauber zu halten. Wahrscheinlich müssten Kanalisationen und andere Versorgungssysteme für die Haushalte und Unternehmen der Stadt auf den neuesten Stand gebracht werden, was wiederum unter den innovativen Technologien, die inzwischen existieren, ebenso eine große Ersparnis wäre. Die Digitalisierung, die im Prinzip jetzt schon überall Internet und WiFi anbietet, deren Stabilität und Geschwindigkeitsraten ich aber nicht kenne, könnte noch effizienter ausgebaut werden, um die Umstrukturierung des Stadtumbaus wesentlich zu unterstützen. Elektrobusse und Elektroautos, derzeit noch eine Zukunftsvision, aber in 20-30 Jahren werden diese individuellen Transportmittel selbstverständlich sein. ich kann in diesem Bericht nur anreissen, was Fachleute aus Ökonomie, Bauwirtschaft, Stadtplanung, Kulturwesen oder Industrie in einer gemeinsamen Aktion anstoßen und verwirklichen könnten, aber als wahrnehmender Beobachter sehe ich, dass Athen als attraktive Metropole im östlichen Mittelmeer in eine Zukunft blicken kann, die durch Lebensqualität und gesellschaftliche wie kulturelle Vielfalt geprägt ist.

 

 

 

*Anmerkungen zu Großvenets wie Olympiaden und Fußballweltmeisterschaften etc.
*Die Olympiaden oder Fußballweltmeisterschaften in der Neuzeit nach 2000 drohen inzwischen nach dem Ende es Events sehr schnell im Fiasko zu enden, das trifft besonders ärmere Länder und die Staaten der 3. Welt bzw. der Schwellenländer. Sie werden von den auf Gewinne spezialisierten Bossen der Verbände in diese Riesenevents hineinmanövriert ersaufen aber dann in den Folgekosten. Die Leidtragenden sind die Bewohner, die erst mit allen Mitteln angefixt werden, um sie dann, wenn alles vorbei ist, im Elend allein zu lassen. Griechenland war zwar nicht so schlimm betroffen, aber 2004, kurz nach Einführung des Euros und einer landesweiten euphorischen Nationalstimmung, auch wegen des Gewinns der Fußballeuropameisterschaft, ahnten die Menschen noch nicht, welch böses Ende die gigantischen Kredite und Geldverschwendungen letztendlich haben würde. Spätestens nach 2008 und der großen weltweiten Finanzkrise kam das böse Erwachen. Nahezu pleite oder mitten im Staatsbankrott erstarrte das Land in Angst, Arbeitslosigkeit, Innovationsstau und einem beispiellosen wirtschaftlichen Niedergang, einhergehend mit dem Aderlass vieler junger, gut ausgebildeter Akademiker, die es vorzogen, lieber mit Mühen und geringerer Bezahlung im Ausland zu arbeiten, als zuhause arbeitslos zu sein. Von den unglaublich desaströsen Folgen einer Jugendarbeitslosigkeit von über 40 Prozent ganz zu schweigen.