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Gibellina und die Erinnerung

Sizilienreisende wissen um den fast unglaublichen Reichtum alter Kulturschätze der großen Insel Italiens im Mittelemeer. Spricht jeman von Sizilien fallen immer wieder die Namen der von den Normannen erbauten Paläste, Festungen und Kirchen, die hauptsächlich in der Provinzia Palermo zu finden sind: der Palazzo Reale, die Kathedrale, der Dom von Monreale oder die Festung Zisa. Darüberhinaus werden die Altertümer der griechischen Hinterlassenschaft bei Agrigent oder Syrakus und Ragusa genannt, ebenso steht weit oben an der Spitze der zu besuchenden Orte in allen Reiseführern die Tempelanlagen der Elymerer und ionischen Griechen in der Nähe von Calatafami Segesta. Aber wo ist die zeitgenössische Kunst in Sizilien zu finden, besteht die gesamte Insel nur aus den kunsthistorischen und archäologischen Sehenswürdigkeiten oder den Überresten einer weitaus älteren Vergangenheit? In Palermo steht ein sehr ansehnliches, zeitgenössisches Museum auf der Via Vittorio-Emanuele, welches aber offensichtlich hauptsächlich von den Reisenden besucht wird, die ohnehin mit der Kunst der letzten beiden Jahrhunderte vertraut sind. In Monreale kann man in einem Seitenflügel der weiträumigen Kirchenanlage des Normannendoms eine Galerie mit Ausstellungen zeitgenössischer Künstler finden und einen größeren Keramik-Mosaik-Raum, in dem informelle Objekte dieses Kunstgenres gezeigt werden. Allein die Aussage einer Kunstführerin zur Präsenz des zeitgenössischen Museums Palazzo Belmonte Riso spricht Bände: „Wer will schon olle Schränke an der Decke eines Museumsraumes sehen?“ Bei diesen Schränken an der Decke handelt es sich um ein Kunstwerk von Jannis Kounellis aus dem Jahre 1993 und ist keineswegs irgendein oller Kunstmist. Man könnte diesem Statement rhetorisch frech entgegnen: „Wer will schon die ewig gleichen Steinbrocken in Ruinen sehen, die angeblich aus vorchristlicher Zeit stammen und ob sie in Athen, Trier, Xanten oder Pompeji zu besichtigen sind, ähneln sie irgendwie alle einander?“

Aber es gibt einen Ort in Sizilien, der als Gesamtkunstwerk vollkommen der zeitgenössischen Kunst gewidmet ist und dabei eindeutige politische und kulturelle Ambitionen vereinigt: Gibellina, ca. 100 km südwestlich von Palermo im Bélicetal, welches am 14. Januar 1968 von einem verheerendem Erdbeben heimgesucht wurde und 231 Tote, 263 Verletzte und circa 150 000 Obdachlose forderte. Die Dörfer Gibellina und Poggioreale wurden nicht wieder aufgebaut und die Bewohner von Gibellina wurden in die vor Erdbeben relativ sicheren Ebene 10 km entfernt umgesiedelt. So entstand Gibellina Nuova. Aber die Erbauer, Planer und Architekten haben es sich nicht einfach gemacht. Gibellina Nuova sollte ein Zeichen sein und ein Fingerzeig in die Zukunft. Gibellina Nuova sollte sich fundamental von der herkömmlichen Architektur, die Sizilien so eindeutig geprägt hat, unterscheiden. Es war die Initiative des kommunistischen Bürgermeisters Ludovico Corrao, der eine Vision hatte und von der Idee getragen wurde, den Bewohnern des zerstörten Dorfes eine ganz neue, zukunftsweisende Heimat zu schaffen. Er trat in Kontakt mit namhaften Architekten und vielen Künstlern aus aller Welt und formte mit diesen in einem lockeren Dialog einen Masterplan für das neue Gibellina. Leider wurden die ebenso zerstörten Nachbardörfer nicht einbezogen und die öffentliche Anteilnahme hielt sich in Grenzen. Es gab außer der Initiative des Bürgermeisters Corrao keine weiterführenden Maßnahmen für die Neugestaltung. Auch von staatlicher Seite wurde eine komplexe Hilfeleistung vernachlässigt oder gleich verweigert. Die Containerdörfer, die für die Überlebenden der anderen Dörfer errichtet wurden, sprechen eine eindeutige und triste Sprache. So wie es vor wenigen Jahren die Bewohner des Städtchen Aquila in den Abruzzen erfahren mussten, die heute noch auf die großmundigen Versprechungen des damaligen Ministerpräsidenten Berlusconi warten. Das Bélice-Tal geriet nach der Erdbebenkatastrophe in die Hände der Mafia, die natürlich große Spekulationsgewinne mittels Korruption aus den öffentlich zur Verfügung gestellten monetären Zuwendungen erwarteten und tatsächlich wanderte ein großer Teil der Hilfsgelder in den Taschen der Capi und Bosse dieser damals noch krakenartig agierenden kriminellen Vereinigung in Sizilien.

Die bekannten Künstler Mimmo Paladino, Mario Schifano, Ludovico Quaroni und Franco Purini, Pietro Consagra, Arnaldo Pomodoro, Oswald Mathias Ungers oder Rob Krier gehören zu der Riege jener Künstler, die sich an der Neugestaltung des Ortes beteiligten. Keinesfalls sollte eine Reißbrettstadt in üblicher Manier entstehen, wie es so oft nach zerstörerischen Katastrophen aus Not und schnellen Hilfsleistungen praktiziert wurde. Als Beispiel dienten englische Gartenstädte, die in dem neuen Plan mit breiten Straßen und zweistöckigen Wohnhäusern sowie Vorgärten und Grünflächen angelegt wurden. Zusätzlich wurden ca. 20 Skulpturen oder Kachelmosaike an markanten Plätzen oder Gebäuden des Ortes aufgestellt oder appliziert. Gibellina gilt als größter von Kunst belebter Kulturort Siziliens, allerdings muss ich sagen, dass die Gärten von Spoerri und Niki de St. Phalle in der Toscana bei mir einen größeren Eindruck hinterlassen haben.

Als wir von der nahe liegenden Autobahn kommend durch die große Sternskulptur am Ortseingang ankamen und langsam durch die Stadt fuhren, dachten wir zunächst, in eine andere Zeit versetzt worden zu sein. Einerseits hatte man das Gefühl in eine futuristische Geisterstadt gelangt zu sein, andrerseits waren wir von den Bauten und Skulpturen dermaßen fasziniert, dass wir begannen den gesamten Ort zu erkunden. Da führte eine lange Treppe zu einem winkligen Gebäude, der Kirche des Ortes, über der eine große weiße Betonkugel thronte. Ein paar Meter sahen wir eine Gebäude in der Form einer liegenden 8, die mehrstöckig gebaut vielleicht einmal ein Parkhaus gewesen sein kann. Ich habe nicht herauskriegen können, welchem Zweck dieses Bauwerk diente. Das zeitgenössische Museum befand sich in Restauration, auch das Theater schien niemals fertig geworden sein. „Il Meeting“ ein dekonstruktivistischer Bau in Form einer Schnecke mag die Stadthalle oder das „Centro populare“ gewesen sein. Und überall sahen wir an markanten Plätzen die unterschiedlichen Monumente, Skulpturen und Kunstobjekte der beteiligten Künstler. Einige wenige Cafés oder Trattorias luden zum schattigen Verweilen ein, aber immer hatte man den Eindruck, dass hier zwar eine neue Zeit geschaffen werden sollte, diese aber von den Bewohnern irgendwie in ablehnender Weise behandelt wird.

Gibellina Nuova war an diesem heißen Tag wie ausgestorben und die Mittagssonne brannte fast unerträglich auf unsere Köpfe. Umso schlimmer, weil in der Stadt zu wenige schattige Plätze zu finden waren. Einst war die Stadt für 5000 Menschen geplant, aber wir hatten den Eindruck, dass viele Häuser unbewohnt waren und auch von touristischen Aktivitäten war nichts zu bemerken. Die Historie der Stadt ist ohnehin umstritten, denn einerseits mussten die Obdachlosen aus dem alten Gibellina nach der Katastrophe 10 Jahre warten, bis sie in die Häuser einziehen konnten und andrerseits fremdelten sie mit dieser neuen, gar nicht so sizilianisch anmutenden Architektur. Ein alter Schäfer soll laut einem Zeitungsbericht der NZZ gesagt haben: „Das neue Gibellina hat keine Seele. Ich bin lieber hier beim alten Dorf mit meinen Schafen unterwegs.“

Der Höhepunkt der skulpturalen Höhenflüge ist die Landart des italienischen Künstlers Alberto Burri, der genau an der Stelle wo das alte Gibellina stand eine riesengroße weiße Betonplane mit den strukturellen Elementen des Dorfgrundrisses in die Landschaft setzte. Die Betonschicht ist anderthalb Meter hoch und darunter liegt die mittelalterliche Geschichte wie die sterblichen Überreste der von Menschenhand geprägten Bauwerke für immer begraben.
Was als großartiges Kunstwerk der gesellschaftspolitischen Landart gefeiert wurde, war sicherlich in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts ein Highlight dieser Kunstrichtung und einer konzeptionellen Erinnerungskultur, aber für mich greift dieser riesige Betonpanzer wie ein Fremdkörper in die wunderschöne Naturlandschaft des Bélice-Tales ein und würde heute sicherlich nicht mehr so angelegt werden. Was der Nachwelt als Erinnerung und Mahnmal dienen soll, ist nur ein Betonteppich und die wahre Erinnerungskultur lebt meines Erachtens in den Geschichten der ehemaligen Einwohner und den noch vorhandenen Überresten der alten Stadt weiter. Dabei ist es noch nicht einmal sicher, wieviel Geld, das für die Menschen gedacht war, im Beton durch die Machenschaften der Korruption und der Mafia verschwunden ist. Davon haben die Überlebenden und deren Kinder wie deren  Kindeskinder des alten Gibellina nichts mehr. Nur wenige Kilometer weiter, werden die Überreste von Segesta von touristischen Buskollonen heimgesucht und bestaunt und kaum einer begreift, was vor mehr als 2000 Jahren hier einmal für Menschen entstanden ist.

W. Neisser – geändert 8/2021