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Oh wie schön ist Pandama!

Wenn man das Wort Potsdam buchstäblich durcheinanderwürfelt kann dabei Posdamt herauskommen oder Amtspod (-cast) oder -schimmel. Dieser Einstand klingt blöd, aber ich muss irgendwie die Kurve von Potsdam zu Corona kriegen. Sanssouci (ohne Sorgen, sorglos), das berühmte Rokokoschloss der Preussen, das auf einer lang gestreckten Anhöhe über der Stadt 1741-1744 noch unter Wilhelm IV erweitert wurde, wirft schon beim ersten Blick die Frage auf, wie das Haus Hohenzollern diese Großbaustelle damals finanziell gestemmt hat und wieviele Menschen zur Arbeit gedungen oder zur Ader gelassen wurden. Hier lebte, regierte und starb der alte Fritz, der mit seinen Nachkommen peu a peu dafür sorgte, dass Preussens Gloria dreißig Jahre später den Deutschen Glorienschein eines Kaiserreiches erreichte. Friedrich der Große scheint ein ambivalenter Charakter gewesen zu sein, denn einerseits führte er mehrere Kriege gegen Österreich und andrerseits trat er als Philantrop und Freund der schönen Künste auf. Nach all den Kriegen verspürte der „alte Fritz“ irgendwann keine Lust mehr, sich Sorgen zu machen, nachdem er sein Leben lang nichts anderes getan hatte oder machen musste. Er vertrieb sich die Zeit mit Querflötenspiel, schrieb einen Anti-Machiavelli und gab sich intellektuellen Gesprächen hin, die oft a la français parliert wurden. Von Anfang lag ein Fluch über dem Haupt des jungen Prinz und so ergab es sich nahezu Gott gegeben, dass er sich selbst und vielen anderen Sorgen machen musste.

In weißem Marmor steht er sinnend im Schlosspark, den Dreispitz auf dem Kopf und schaut gelangweilt, ausdruckslos auf das Treiben der Touristen, den er, ohne es zu ahnen, mit Bau des feudalen Palastes ausgelöst hat.

Wer das Schloss auf dem kleinen Hügel mit den hintereinander gelegenen Weinterrassen schließlich vor Augen hat, muss sehr naiv, romantisch oder leichtgläubig sein, wenn in diesem Augenblick nicht der Gedanke aufkeimen würde, wie ein einziger Mensch mit seiner Verwandschaft, dieses riesige Parkgelände mit dem langgestreckten Prachtbau ohne Sorgen unterhalten könne. Wußte ich da noch nichts vom Palast Erdogans mit den unzähligen Zimmern.

Ich mache mir allerdings Sorgen, dass die drei Dutzend Touristen, die vor dem Schloss flanieren so selbstverständlich ohne Covid-Masken und mit wenig Abstand vom Virus infiziert sein könnten. Ein Ortsansässiger steckte mir allerdings, dass diese Situation einer Menschenleere gleichkäme, weil in den Hochzeiten des Städte- und Kulturtourismus das Gartengelände und sämtliche Wege von sich einander herschiebenden Menschenmengen übervölkert seien. Auf den Parkplätzen der Zufahrtstraßen würden manchmal 50 und mehr Busse stehen und ob dann die neugierigen Schwärme der Schaulustigen die preussische Gloriole noch entspannt genießen und den geschichtsträchtigen Ort bewusst in sich aufnehmen könnten, sei sehr fraglich.

Bevor die Preussen ganz Deutschland vereinnahmten, allein und ohne hinterhältige Tricks war das fast unmöglich, wurde der Norddeutsche Bund als Kampfgenosse umgarnt und da der freche „Franzmann“ schon lange wieder im Visier des preussischen Königs Wilhelm stand, wartete man nur auf die passende Gelegenheit, einen Krieg vom Zaun zu brechen. Aber warum mussten sie wieder auf ein anderes Volk einschlagen, war es nicht genug, dass der  Bismarck und die „Emser Depesche“, ein raffiniertes Bubenstück mit Hinterlist und Tücke. Der alte Fritz starb 1786 und einer seiner Nachkommen, Wilhelm, wurde auf  den Thron gesetzt und dachte, dass Preussen immer noch zu klein sei. Zwischen dem Fritz und dem Willi regierten drei weitere aus dem Preussenclan, die im Öffentlichen Bewusstsein heute nur am Rande wahrgenommen werden.
Ehe sich die Welt versah, standen die Preussen mit ihren Verbündeten vor Paris und als Napoleon III und dessen Generäle schachmatt gesetzt worden waren, erlaubten sich die Preussen den erniedrigenden Frevel, indem sie ihren Wilhelm in Versailles zum Kaiser Deutschlands krönen ließen. Ausgerechnet im Schloss des Sonnenkönigs, der bis dahin einem Gott auf Erden gleichkam. Die französische Seele litt und sann auf Rache oder Revision, je nachdem, wie man das beurteilt. Preussen stand auf dem Gipfel der Macht in Europa und jeder wusste, dass die Franzosen diese Schmach nie vergessen würden.

Das Preußentum, auch wenn es sich im Laufe der Zeit aus unserem kulturellen Habitus verflüchtigt zu haben scheint, steckt uns trotzdem noch tief im Knochenmark „Jawoll“ „Hab Acht“, „Stillgestanden“ und es wird noch etwas dauern, bis wir Deutschen ein souveränes Nationalgefühl eines Citoyen fühlen, wie sich das Voltaire vorgestellt hatte und diese Idee auch dem Alten Fritz zugesteckt hatte. Heute könnten wir selbstbewusster von deutscher Kulturgeschichte reden, wichtiger wäre aber, endlich das Europäische nicht nur zu entdecken, sondern auch zu leben und als Gebilde aufzubauen.

„Die Gesellschaft ist in zwei Kasten geschieden, von 

denen die eine fortwährend Kredit gibt und die andere 

fortwährend Kredit erhält.“ 

                                                                                       P. J. Proudhon

Der Kapitalismus ist nicht tot, sondern hängt an der Beatmungsmaschine der Desorientierung, der Kapitalismus atmet schwer und ein Hirntod ist absehbar, der Kapitalismus sitzt in den Penthouseetagen und Lofts der Wolkenkratzer, in den 20 Zimmer Villen in Bel Air oder an der Amalfiküste, der Kapitalismus hat sich eingesperrt und versucht bis auf die Goldzähne bewaffnet, seinen Untergang, wenn´s sein muss, bis zu einer dumpfen Implosion zu verhindern. Irgendwie erinnert mich das an die letzten Tage im Führerbunker, jenem Nazihades unweit des Kanzleramtes mit der moralisch verrotteten Mörderclique des Welthasses. Der Kapitalismus enteignet unsere Zukunft, warum enteignen wir nicht endlich den Kapitalismus. Hinter dem Begriff Kapitalismus stehen Personen, die das gefräßige Raubtier an der Kandare zu halten versuchen, die dafür sorgen dass das Ungeheuer die Zähne fletscht, brüllt und tobt und die Welt in Angst und Schrecken versetzt. In Zeiten der pandemischen Übergriffe zeigt sich, wie anfällig der Kapitalismus ist, auch wenn er 2020 weit davon entfernt ist, einer anderen ökonomischen Ordnung mit einem gerechterem System den Platz zu überlassen. Immerhin strengt sich das kapitalistische System enorm an, um nicht aus den Gleisen zu fliegen, ansonsten würde man die Versprechungen und schon angelaufenen Hilfsprogramme nach/während der Pandemie nicht nachvollziehen können. Hilfsprogramme sind euphemistisch gemeint, denn zunächst wird mit aller Kraft und Gewalt versucht, die alte Human Ressources-Basis des Kapitalismus zu retten, denn ohne diese Basis kann der Kapitalismus nicht funktionieren. Die Basis, das sind wir alle, alle 7,6 Milliarden Menschen, die sich auf dem Erdball anstrengen, durch Arbeit ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Ob das ein Tabakhändler an der 5th Avenue ist oder ein kleiner Junge in Bangla-Daesh, der Tag für Tag unter größten Strapazen Jeans färbt oder mit ätzenden Säuren den Stoff mit Rissen und Löchern für den westlichen Geschmack zu veredeln. Das gilt auch für den Müllbergdurchsucher in Kuala Lumpur oder dem Waldarbeiter in der Sierra Nevada, das gilt für alle körperlich und geistig arbeitenden Menschen in Lohnabhängigkeit. Auch der Flaschensammler in Köln oder Berlin gehört dazu, auch wenn er froh sein kann, am Ende des Tages nicht unter einer Brücke von kriminellen Herumstreunern eins aufs Maul zu kriegen. Alle versuchen, sich und ihre Arbeitskraft zu erhalten, gesund zu bleiben und alle sind Teil des kapitalistischen Systems, ob sie fast nichts verdienen oder in wenigen Minuten ein Bankkonto zum Platzen bringen können. Sie existieren in der unentrinnbaren Ordnung eines Systems, das keinen ausbrechen lässt, weil schließlich jeder sein Leben liebt und nicht beabsichtigt zu schnell vom Tod ereilt zu werden.
Dazu braucht man nicht unbedingt bei Marx und Engels nachzuschauen, um zu begreifen, wie die gesamte Chose des Menschseins normalerweise funktioniert. Um leben zu können, muss der Mensch zumindest in der Lage sein, sich ernähren zu können. Vor 250 Jahren (der „Alte Fritz“ weiß, wovon ich rede) blieb ihnen nichts anderes übrig, als ein Stück Land zu bewirtschaften, Gemüse anzupflanzen und vielleicht noch ein oder zwei Nutztiere zu halten. Allerdings reichte das gerade für den eigenen Lebensbereich aus, die restliche Zeit schufteten sie als bessere Leibeigene auf den Feldern eines Feudalherren, dem sie für einen geringen Lohn alles abgeben mussten, was sie säten und ernteten. 

Mit der Industrialisierung, zum Beispiel im exponentiell wachsenden Ruhrgebiet, malochten sie dann für einen Industrieboss tief unter der Erde, um Kohle zu fördern, die für die Verhüttung von Eisen und Stahl gebraucht wurde. Sie lebten in kleinen Häusern, die meistens dem Industrieboss gehörten und wenn sie Glück hatten, konnten sie auch ein kleines Stück Gemüsegarten ihr eigen nennen. Sie zeugten viele Kinder, weil Kinder der eigentliche Reichtum war, weil Kinder wieder Arbeiter wurden und später, wenn die Eltern von der Arbeit ausgelaugt und aussortiert waren, mussten sie diese ernähren und pflegen. Schon damals galt: Die Reichen werden immer reicher und die Armen blieben so arm wie sie waren und konnten nur überleben, wenn sie sich zusammentaten und solidarisch handelten. Das spiegelte die Situation zum Ende des 19. Jahrhunderts wieder.
Deutschland war vo 1870 noch in sehr viele Fürstentümer, Rittergüter und Königshäuser aufgeteilt und wurde erst 1871 zu einer Nation, nachdem Bismarck mit seinem Preussenkönig Wilhelm die Franzosen in einem hinterlistig eingefädelten Krieg besiegt hatten, der so unnötig wie ein Kropf war, weil auf beiden Seiten adlige Ranküne und Begehrlichkeiten zu Meinungsverschiedenheiten geführt hatten. In Wirklichkeit ging es um Macht und Geld und Gier und Eitelkeit.
Den Krieg führten die Soldaten auf beiden Seiten mit Säbeln, Gewehren und Bajonetten, indem sie mit „Hurra“ auf- einander zustürmten. Die meisten Soldaten wurden in der Regel aus den Reihen der einfachen Leute (zwangs)rekrutiert und die Befehle in den Schlachten gaben die Offiziere, die meistens aus den reichen Cliquen der Adligen oder Großbürger stammten. Die Soldaten fielen auf einem sogenannten Feld der Ehre, was nichts anderes bedeutete, als dass sie auf einem Acker irgendwo in Nordfrankreich tot geschossen wurden. Die Offiziere bekamen Orden, weil sie trotz großer Verluste gesiegt hatten. Der König von Preussen heimste sich nach der Niederlage des Gegners und der Proklamation zum Kaiserreich ganz Deutschland ein, das, wie man damals sagte, von der Maas bis an die Memel, von dem Etsch bis an den Belt reichte. Die geschlagenen Franzosen mussten sogenannte Reparationen bezahlen, was nichts anderes bedeutete, als den siegreichen Preussen zunächst große Landgebiete wie Elsass und Lothringen abzutreten und zusätzlich enorme Summen Geld in die Kassen der Sieger zu transferieren. Mit dem vielen Geld bauten die Preussen Häuser, Paläste, Bahnhöfe, Kasernen, Fabriken und alles was so ein stolzes und siegreiches Land in Zeiten eines industriellen Aufbruchs so brauchte. Alles sah preußisch aus und preußisch war trutzig, stabil und groß. Was von Preußens Herrlichkeit übrig geblieben ist, kann man heute überall in Berlin und Hamburg und Dresden sehen, aber auch in Metz, Straßburg und Mühlhausen.
Das Industriezeitalter begann furios. Bauern wurden Arbeiter und die Arbeiter waren machtlos lohnabhängig. Die Besitzenden nannten die Arbeiter Proleten und wie sie die reichhaltigen Bodenschätze ausbeuteten, so saugten sie auch die Arbeiter aus. Aus den Bodenschätzen machten die Arbeiter all das, was später Ingenieure und Techniker erfanden, vor allem Kanonen, Panzer, Granaten und Kriegsschiffe, aber auch Lokomotiven, Autos und Maschinen, die wiederum andere Maschinen bauen halfen. Die Rüstungsindustrie wurde eines der wichtigen Produktionsbereiche des Kapitalismus, weil „der Krieg nicht nur der Vater aller Dinge ist“, sondern dem Kapitalisten immer auch riesige Profite beschert, gleichgültig an wen er die Waffen liefert. Der Römer Marcus Tullius Cicero (frei nach Platon) sagte: „Willst du den Frieden, bereite den Krieg“, (Si vis pacem para bellum) ein Satz, der in der Geschichte scheinbar immer wieder als Begründung für alle Kriege herhalten musste, aber meines Erachtens lediglich das Machtkonzept aller hierarchischen Klassensysteme bedient, die nur im bedingungslosen Wachstum und dem exponentiell zu erwirtschaftenden Mehrwert existieren kann. Die Stimmung in Europa heizte sich dermaßen nationalistisch auf, dass schon nach 30 Jahren am Horizont die Flammen des nächsten Krieges schon leuchteten. 1914 schoss der Serbe Gavrilo Princip den österreichischen Thronfolger Franz-Ferdinand nieder und die tödliche Kugel löste den bis damals größten Krieg der Geschichte aus. In vier Jahren starben in Flandern, der Picardie, in der Ukraine in Südtirol und auf vielen kleineren Schlachtfeldern 40 Millionen Menschen. War das die Ursünde der Neuzeit? Sicher ist, dass alle weiteren kriegerischen Verwerfungen bis heute auf den 1. Weltkrieg zurückzuführen sind. Die Protagonisten aller negativen Eigenschaften und politischen Entwicklungen bilden einen illustren Zirkel gewissenloser Mörder, Lügner und Peiniger: Mussolini, Hitler, Franco, Stalin, Mao, Pol Pot, Che, Fidel, Pinochet, Berlusconi, Bush jr., Trump, Putin, Orban oder Bolsonaro. So schrecklich kann keine Hölle sein, um den Taten dieser Figuren gerecht zu werden. Die Toten aus allen Kriegen, Pandemien, Hungernöten oder Naturkatatstrophen werden die Milliardenschwelle noch in diesem Jahrhundert überspringen. Die Menschheit überstand und überwand das Christentum, ließ sich in der Reformation zerreissen, nahm nach und nach die Aufklärung dankend an, richtete sich in der Moderne ein, sah den Kommunismus und den Faschismus kommen und gehen, aber ob wir die Klimakatastrophe (die man auf dem ersten Blick nicht sehen kann) überleben werden, ohne eine Wendung um 180 Grad zu vollziehen, ist sehr fraglich. Bis 2050 ist das Ziel gesteckt, Null Emissionen zu erreichen. Oh la la, das wird schwierig, wenn nicht alles getan wird, was notwendig ist, um überhaupt eine Zukunft des Menschengeschlechts zu bewahren. Wie bei Corona in diesem Jahr brauchen wir uns nicht mehr zu fragen, wie konnte das alles geschehen, wer oder was ist Schuld daran, sondern wir müssen kleinlaut und mit Scham zugeben, dass es der Mensch ist, der offensichtlich das zerstörerischste Potential hat, was man sich denken kann.

Der Mensch war schon 1848 (da begann es überall zu rumoren und der Schrei nach Revolutionen hallte durch Europa) nicht mehr frei (wenn er jemals frei war) sondern Teil eines riesigen ineinander verzahnten Produktionsapparates, der aus allen Rohstoffen, die man aus dem Boden buddelte oder aus dem Fleisch, der Haut und den Knochen toter Tieren gewann und all den „geernteten“ Pflanzen saugte, die nützlich erschienen, Güter erzeugte. Aus diesen Materialien bauten, konstruierten und montierten die Arbeiter all das, was wir heute zu Land, zu Wasser und in der Luft als Fortschritt der Lebensqualität kennen. Dieses Ergebnis erweist sich als Trugschluss an sich, eine Katze, die sich selbst in den Schwanz beißt. Es ist Zeit, den Ökonomen und Philosophen Karl Marx ins Spielgeschehen zu holen, weil der Denker aus Trier im 19. Jahrhundert in der Analyse des Aufeinandertreffens der sozialen Klassen eine wesentliche Rolle gespielt hat. Marx hatte herausgefunden, dass der Mensch seine Arbeitskraft an einen Besitzenden oder Warenproduzenten verkaufte, um sich von dem sehr geringen Lohn das kaufen zu können, was er zum Leben und Überleben für sich und seine Familie brauchte.
Aus den ehemaligen Manufakturen waren Industriekonzerne entstanden und die Arbeitskraft des Menschen, des überwiegenden Teils der gesamten Bevölkerung war die Basis dafür, dass der industrielle Fortschritt überhaupt entstehen konnte. Der Kernsatz von Marx in seinem Buch das Kapital lautet:

»Zu seiner Erhaltung bedarf das lebendige Individuum einer gewissen Summe von Lebensmitteln. (…) Die Summe der Lebensmittel muss also hinreichen, das arbeitende Individuum als arbeitendes Individuum in seinem normalen Lebenszustand zu erhalten« (MEW 23, 185). Das bedeutet: Mit dem Lohn kaufen die Lohnarbeitenden alles Lebensnotwendige und reproduzieren sich so über den Konsum von Waren, den andere LohnarbeiterInnen hergestellt haben. Marx geht davon aus, dass der Wert der Arbeitskräfte mit dem »Wert der zur Erhaltung ihres Besitzers notwendigen Lebensmittel« identisch ist (MEW 23, 184). Da in der Reproduktionssphäre auch der zukünftige Arbeitskräfte-Ersatz sichergestellt wird, muss der Lohn auch »die Lebensmittel der Ersatzmänner, d. h. der Kinder der Arbeiter« einschliessen (ebd., 186).

Diese Situationsbeschreibung der arbeitenden Bevölkerung betrifft das 19. Jahrhundert, als Marx sein epochales Werk schrieb. Wenn wir genau hinschauen, hat sich daran nicht viel geändert, man muss aber auch die entscheidende Rolle der Besitzenden oder Kapitalisten mit einbeziehen, die von Marx beschrieben auch hinterfragt und analysiert wurde. In der Zeitschrift „brand eins“ beschreibt Viktoria Unterreiner die Definition von Karl Marx Denken und Wirken folgendermaßen:

„Nach der Theorie von Marx geht es den Unternehmern als Eigentümern des gesamten Produktionskapitals primär nicht darum, den Wohlstand der Bevölkerung zu verbessern, sondern ihren eigenen Profit zu erhöhen. Die Ware hat darum nach Marx nicht mehr nur eine Gebrauchsfunktion, die sich an ihrer Nützlichkeit bemisst, sondern auch einen Tauschwert, der in Geldeinheiten ausgedrückt wird. Die Unternehmer zahlen den Arbeitern so wenig Lohn wie möglich, denn der Mehrwert als Differenz zwischen der entlohnten Arbeitskraft und dem Wert der hergestellten Güter fließt vollständig den Unternehmern zu. Die lohnabhängigen Arbeiter scharfen also für die Unternehmer den Profit. Ihre Ausbeutung ist für Marx das Kennzeichen des Kapitalismus.“

Ulrike Hermann (Ökonomieressort taz) führt aus: Doch obwohl der Stil so sperrig ist, übt Marx’ Hauptwerk einen ungeheuren Sog aus. „Das Kapital“ ist noch immer ein Bestseller und erreicht Verkaufszahlen, von denen heutige Ökonomen nur träumen können.

Marx fasziniert bis heute, weil er der erste Theoretiker war, der die Dynamik des Kapitalismus richtig beschrieben hat. Die moderne Wirtschaft ist ein permanenter Prozess – und kein Zustand. Einkommen ist niemals garantiert, sondern entsteht erst, wenn unablässig investiert wird.

Das Covid-19 Virus zeigt deutlich, wie fragil und anfällig die gesamte Erde ist, auf der sich der Mensch mehr oder weniger gut eingerichtet hat. Ich habe schon beschrieben, welche Auswirkungen die Ereignisse der geschichtlichen Epochen auf die Entwicklung der unterschiedlichen Völker, Religionen, Rassen und Klassen brachte und muss noch einmal auf die Kolonisierung der Erdteile durch die verschiedenen europäischen Mächte zurückkommen und wie sich daraus zwangsläufig die aktuell weltweit vernetzte Globalisierung entwickeln konnte. Wenn wir einen alles verbindenden Grund suchen, rückt das SEIN des Menschen immer wieder in den Mittelpunkt aller Bestrebungen, Erforschungen oder Erfindungen. Ohne Buchdruck keine Kommunikation und keine Digitalisierung, ohne den Verbrennungsmotor keine Automobile und Schiffe und kein Warenaustausch oder keine Ausbeutung der anderen Kontinente, ohne Elektrischen Strom kein Licht, keine Energie, keine Produktionsmaschinen und keine Konsumwirtschaft. Kurz gesagt, aus den sinnlichen Fähigkeiten des Menschen wie Sehen, Hören, Sprechen, Fühlen, Schmecken oder dem Gleichgewicht entstand durch reflektierendes Denken die Erschaffung aller Güter oder Produkte, die nach den Beweggründen der Erfinder und Forscher die Lebensqualität verbesserten und so verfeinerten, dass wir heute darauf nicht mehr verzichten möchten. Leider unterstützt und hilft dieser Fortschritt bislang nur einem Teil der Weltbevölkerung, Afrika, wesentliche Teile Südamerikas und Asiens blieben arm und sich selbst überlassen. Die hoch industrialisierten und zivilisierten Staaten profitieren unverhältnismäßig viel davon, während viele Einwohner der Schwellenländer wie der ganz armen Staaten froh sein müssen, den jeweiligen Tag überlebt zu haben. Dieses Ungleichgewicht führt zu all den Katastrophen, die das 20. und 21. Jahrhundert geprägt haben.
Es muss die Aufgabe der sogenannten „Ersten Welt“ sein, eine Balance zu schaffen, um dem Menschen Freiheit, Gleichheit, Würde, ausreichende Versorgung, Zugang zu allen Bildungsmöglichkeiten und Ressourcen schonenden Handlungsmöglichkeiten zu gewährleisten. Die Klimakrise und auch die Pandemie mahnt uns eindrücklich, diese Prozesse so zügig wie nur möglich zu verwirklichen. Während der Pandemie infizierten sich ca. 6 Millionen Menschen weltweit und nahezu 400.000 (inzwischen 4,3 Millionen) starben mit oder an den verheerenden Auswirkungen des Virus. Der weitaus größte Teil aller Infizierten und Toten stammten aus den ärmeren Klassen, den immer noch unterdrückten Rassen, den älteren Menschen und allen, die mit einer Vorschädigung leben mussten. In der Folge von Corona bauschte sich eine formidable Rezession auf, die wiederum einen ihrer wichtigsten Gründe in der globalen Vernetzung hatte. Wenn die reichen Staaten, die aus dem Problem der teuren Stückkosten in den Industrieländern alles auf die Billiglohnländer in Asien verschoben, musste durch den weltweiten Lockdown eine Verzögerungslücke entstehen, der Autobauer in Wolfsburg kann in der Krise keinen Golf zusammenmontieren, wenn die Kleinteile in der Weltwerkbank China produziert und vertrieben werden und wenn das RKI (Robert-Koch-Institut) trotz eines ausführlich ausgearbeiteten Vorsorgeplans für eine eventuell auftretende Pandemie keine Forschung vorantreibt und die elementarsten medizinischen Schutzvorkehrungen wie Schutzkleidung und Atemgeräte nicht auf Lager hat, kann es sein, dass Ärzte nicht professionell arbeiten können und daher Menschen sterben können. Wenn fast alle pharmazeutischen Produkte in Indien oder Südostasien hergestellt werden, kommt es zu Lieferengpässen, wenn nicht vorher das Allernotwendigste gekauft und eingelagert wurde. Flug- und Schiffsverkehr standen still und dann war guter Rat teuer.
Wir werden die Rezession überwinden, aber auch nur dann, wenn alle europäischen Staaten mit in einem Boot sitzen und miteinander aktiv zusammenstehen und gleichermaßen Hilfe bekommen. Die Summen, die sich jeden Tag neu erhöhen, ergeben sich aus dem Schaden, den die gesamte Wirtschaft hinnehmen musste, weil aus epidemischen Gründen nicht gearbeitet wurde. Diese zur Verfügung gestellten Summen sind notwendig, denn wenn alles miteinander verzahnt ist, müssen auch alle Teilhabe bekommen. Nachdem jahrelang die Gesundheitssysteme links liegen gelassen wurden und der Rotstift reiche Beute in den Bilanzen fand, sprach die Politik mit einem Mal von den systemrelevanten Berufen wie Pfleger-innen, Ärzte_innen, LKW-Fahrer_innen, Labor_kräften, Rettungs_sanitätern, die zumindest die Bevölkerung vor dem Schlimmsten zu bewahren. Um es ganz deutlich zu sagen: Alle produzierenden und dienstleistungserfüllenden Berufe oder Hilfstätigkeiten sind in einem Staat wie dem unsrigen systemrelevant. Ohne die Arbeit der Mehrzahl der Menschen kann kein Staat existieren, denn von den Finanzjongleuren in den Börsen und Banken kommt unten nichts an. Diese erzockten Milliarden wandern schnurstracks in die Taschen derjenigen, die schon immer aus Geld Geld gemacht haben, wie es John Steinbeck einmal formulierte. Wir stehen an einer Wende und wenn wir Sorge tragen und den Planeten mit allen Mitteln schützen, können wir als Menschen auch weiterhin ein menschenwürdiges Leben führen, auch die, die bislang unter dem Tisch lagen und die Brotkrümel auflasen. Die Milliarden und Billionen sprechen eine klare Sprache, zeigen aber auch, dass Geld eben nicht aus dem Bankomaten purzelt, sondern zunächst durch Arbeit erwirtschaftet werden muss. Wie sangen die Arbeiterdemonstranten in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts: „Alle Räder stehen still, wenn der starke Arm des Arbeiters es will.“  Das bezog sich auf den Klassenkampf um Arbeitszeiten, Lohnfortzahlungen, Krankengeld oder Urlaubsansprüche. Heute merken wir, dass der Stillstand durch den bösen Virus auch das Finanzsystem lahmlegen und dass man nicht wie in einer Bananenrepublik flugs die Druckmaschinen anschmeißen kann, um frisches Geld verteilen zu können. Alles ist viel komplizierter und vielleicht doch ganz einfach, wenn man bedenkt, welche Summen von Milliardären und Millionären in den Banken versteckt sind und wieviel Geld durch Steuerbetrug den Gesellschaften entzogen werden. Ein Uli Hoeness kann mal eben 20 Millionen in den Tresoren irgendwelcher Inselstaaten verschwinden lassen, der Monteur bei VW geht am Monatsende nach Hause und der Staat hat sich schon längst seinen Steuerobolus abgezweigt. Die weltweiten Geldströme der Mafia und der Wettbetrüger könnten, wenn sie gesetzlich in den Kreislauf der Finanzwirtschaft flössen, eine Reihe armer Länder in der Sahelzone mühelos ernähren. Geld ist auf der Welt zur Genüge vorhanden, um das nachzuvollziehen, braucht man nur einen Taschenrechner, um die Forbesliste der reichsten Reichen zusammen zu addieren. Also: 2020 besaßen die reichsten 2095 Menschen der Erde 8 Billionen USD, dabei besaß einer der reichsten Deutschen auf Platz 99, Stefan Quand, lediglich 13,48 Milliarden. Weltweit verfügen ca. 18.1 Millionen Menschen mindestens über 1 Millionen USD, das ergibt 18.100.000.000.000 – ich kenne den Zahlenbegriff nicht, der dieser Summe einen verständlichen Nenner verleiht. Natürlich wird man sagen, dass es eine Milchmädchenrechnung ist und dass kein Mensch, soviel Geld weder zuhause noch auf irgendeiner Bank liegen haben kann, natürlich ist es richtig, dass die Vermögen in Immobilien, Aktien, Produktionsstätten, Dienstleistungsunternehmen (Jeff Bezos – amazon – reichster Mann der Welt) angelegt sind, natürlich ist es richtig, dass ein großer Teil dieser unfassbaren Summe schon versteuert ist und den jeweiligen Besitzenden mehr oder weniger zu Gute kommt. Jeder Ökonom wird meine Ausführungen belächeln, aber das ist gleichgültig, weil ich keine Studie schreibe, sondern meine so gut wie möglich recherchierten Wahrnehmungen wiedergebe. Nehmen wir an, dass ein Millionär mit ca. 10 Millionen Euro 90 Prozent davon versteuern muss, dann blieben ihm immer noch 1 Millionen Euro im Jahr zur freien Verfügung, also monatlich ca. 83.333 Tausend bar auf der Kralle würde der Ganove sagen. Würde das nicht ausreichen? Soviel verdient vielleicht ein Schichtarbeiter bei VW im ganzen Jahr und kommt nach den aktuellen Preisentwicklungen auf 6944,41 brutto, womit er einigermaßen gut leben könnte. Es ist die Ungleichheit stupid. Ob ich 1 Pfund Kaffee für 7 Euro oder für 70 Euro kaufe, Kaffee bleibt Kaffee, auch wenn der Geschmack sicherlich unterschiedlich ist. Die meisten würden den Unterschied aber erst gar nicht bemerken.

Wir brauchen eine Umverteilung und ich meine, dass die Rechenbeispiele, die ich dilettantisch durchgeführt habe, eine gerechte Lösung wären, wenn wir den Planeten vor dem Klima-Shutdown retten wollen und eine weitere noch tödlichere Pandemie verhindern. Solange sich keiner als Verlierer fühlt und alle zufrieden sein können, wäre schon viel erreicht. Braucht man Statussymbole wie eine Rolex oder einen Porsche? Braucht man im Supermarkt 20 unterschiedliche Joghurtmarken? Müssen Manager im Jahr mit über einer Millionen nach hause gehen und welcher Fußballspieler ist 100 Millionen wert? Was wir brauchen sind gute Schulen und Universitäten mit gut bezahlten Lehrern und Professoren, die ihre Arbeit mit Engagement vermitteln, was wir brauchen ist eine freie Gesundheitsfürsorge und ein Personentransportwesen, das sich jeder leisten kann. Wir brauchen bezahlbaren Wohnraum und gesunde Ernährung. All das beten die Politiker immer wieder vor, aber es ändert sich kaum was. In Brüssel laufen tausende Lobbyisten herum, die die Abgeordneten bearbeiten und meiner Meinung nach auch durch Bevorteilung in ihrem Sinne beeinflussen, um positive Gesetze zu blockieren. Allein der Bayer-Konzern füttert mit 4 Millionen Euro seine Glücksritter der Manipulation. 

Verfügt ein Staat über ausreichend Steuern, ist er in der Lage, alle wichtigen öffentlich lebenswichtigen Bedürfnisse seiner Einwohner zu befriedigen: Bildung, ÖPNV, Gesundheit, Wohnen, Essen und auch Freizeit. Die Reichen blieben ausreichend reich und die Ärmeren könnten endlich würdevoll leben. Die EU-Komission will 750 Milliarden Euro für die Folgen der Pandemie und der daraus entstandenen Rezession ausgeben und mir scheint, dass es viel zu wenig ist, weil die Rezession (Stillstand der Wirtschaft, Flugverkehr etc.) den Staaten die Chance eröffnet, auch im Bereich Klimaziele Erfolge zu erreichen.
Leider muss auch gesagt werden, dass zwar ein weltumspannendes kapitalistisches oder neoliberales System existiert, aber dass die Welt so uneinig wie nie zuvor ist. Mit Trump, Putin, Xi Ping und anderen wird es keine Gerechtigkeit geben und es ist äußerstnicht nur fragwürdig und illusionär, ob mit derartigen Protagonisten das Klima gerettet werden kann. Aber auch über diesen diktatorisch auftretenden Machthabern hängt das Damoklesschwert der Klimakrise und auch die Bevölkerungen dieser Länder wollen weder ersticken, noch verdursten, ersaufen oder in der Sonne verglühen. Ehrlicherweise habe ich wenig Hoffnung, dass alle Staaten dieser Erde in den kommenden 10 Jahren eine gemeinsame und verbindliche Lösung finden, aber die Hoffnung stirbt bekanntlich immer zuletzt. Aber auch das erscheint mir allein für meine Person ungerecht und inakzeptabel, denn ich will nicht auf eine Hoffnung warten, die sich nicht erfüllt und  an der ich dann sterben werde.

Wer sich eingehender informieren will, braucht nicht unbedingt Karl Marx zu lesen, denn zeitgenössische Soziologen, Philosophen, Sozialpsychologen und Ökonomen von Rang beschreiben Szenarien, wie die Welt zu ändern wäre: Thomas Piketty, Eric Hobsbawn, Jürgen Habermas, Eva Illouz, Eric van Reybrouck, Harald Welzer, Jean Ziegler, Sarah Wagenknecht, Bjung Chul Han, Rutger Bregmann, David Graeber, Naomi Klein, Judith Butler, Hans-Ulrich Gumprecht, Joseph Vogl, Philip Manow, Didier Eribon, Slavoj Zizek, E. Doctorow, Christian Neuhäuser, Martha Nußbaum, Carola Rackete, Noam Chomsky, Hannah Arendt und alle, die sich bemühen, Licht ins Dunkel der neoliberalen Machenschaften zu bringen.

Wer sich fragt, warum ich seit Wochen meine Blogs über Corona und damit zusammenhängende Phänomene oder Wahrnehmungen schreibe und dass ich kaum einen Nachhall finde, wird sich mit der Antwort zufrieden geben müssen, dass ich mich einerseits verpflichtet fühle, meine Stimme in dem Chor der Warner zu erheben, andrerseits im Denken und Schreiben Erfüllung finde, weil es mir auch Spaß macht. Es mir egal ist, ob ich mit dieser Tätigkeit einen gerechten Arbeitsgegenwert bekommen könnte, wie das in unserer Warengesellschaft üblich ist. Nein, aber ich denke, dass es immer noch besser ist, als vor mich hin zu schimpfen und alles über mich ergehen zu lassen. 

 

„Reichtum ist in den Augen der meisten Menschen eine gute Sache. Viele wollen reich werden und wer es schon ist, leidet zumeist kaum darunter. Aber man kann auch zu reich sein und das ist durchaus ein ernst zunehmendes gesellschaftliches Problem. Denn schädlicher Reichtum verhindert letztlich ein Zusammenleben in Würde.“

Klappentext

„Na klar, die Einkommen müssen sich einander annähern. Langfristig brauchen wir einen exponentiell steigenden Steuersatz, der ab einem gewissen Punkt gegen 100 Prozent strebt.“

„Das geht nur auf europäischer Ebene. Ich sehe im Moment keine andere Weltregion, mit der man einen solchen Diskurs führen könnte. Auf der einzelstaatlichen Ebene geht das meiner Meinung nach nicht, weil die ökonomische Abhängigkeit der Staaten vom internationalen Kapital zu groß ist. Nur auf der Ebene der EU hätte man die notwendige Resilienz, um eine so große Transformation durchzusetzen.“

Interview im FREITAG

Christian Neuhäuser

 

W.N. 30. Mai 2020 – Geändert am 15.8.2021