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Wenn die Vaporettos Pause machen

Streik! Inzwischen kennen auch die jüngeren Deutschen, also die nach 1980 geborenen Mitbürger, den Begriff der gesetzlich verbrieften Auseinandersetzung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern (oder ist das reziprok umgekehrt gemeint), seit ein gewisser Herr Weselsky mit der relativ kleinen Gewerkschaft GDL (Gewerkschaft der Lokführer) allen Bahnfahrern das Fürchten gelernt hat, aber auch die Funktionäre der Pilotengewerkschaft „Cockpit“ haben in den letzten Jahren Lehrstücke des Verweigerns durchgespielt, so dass auf manchem Flughafen scheinbar das „Chaos“ ausgebrochen war.
In Italien kennt jedes Kind, jede Frau, jeder Greis das Wort Streik „Sciopero“ und heute Morgen mussten es auch die vielen tausend Touristen kennenlernen, die in Venedig mit dem Vaporetto von einer Sehenswürdigkeit zur anderen fahren wollten. Allerdings betraf es aber auch die vielen italienischen Lohnabhängigen, die irgendwie vom Festland oder von verkehrstechnisch nicht so günstig gelegenen Stadtteilen an der Peripherie der Lagunenstadt zur Arbeit wollten. Man kann annehmen, dass die meisten dieser Beschäftigten monatlich keine üppigen Gehälter zu erwarten haben und daher sicherlich eine derartige Situation überhaupt nicht zu goutieren wissen.
Die Transportgewerkschaft hatte zum Streik aufgerufen und laut öffentlicher Bekanntmachung sollte nichts mehr gehen, äh, fahren, schippern zwischen Piazzale Roma, Fondamente Nove, Zattere, Giardini oder San Angelo.
Aus den italienischen Gazetten ist nur soviel zu erfahren, so gut italienisch kann ich nicht, dass es bei diesem Ausstand um soziale Sicherheit, Mindeststunden, bessere Arbeitsbedingungen gehen soll. Da wir um 10 Uhr die zweite Gruppe in die Giardini der Biennale führen sollten, aber kein einziges Boot laut Aussage einer Mitarbeiterin am Ticketschalter in diese Richtung fahren würde, mussten eben alle zu Fuß gehen. Ich bin eilig vorausgeeilt, weil ich vorab die Eintrittstickets kaufen musste, damit eine reibungslose Durchführung der Führung gewährleistet werden konnte. Allein der Herr, der noch vor wenigen Tagen sehr nett alle Mitreisenden als 65jährige durchgewunken hatte, schien nicht gewillt zu sein, irgendeinen Kompromiss einzugehen. War das eine private solidarische Haltung als Zeichen für die streikenden ACTV-Schiffsleute. Er gab sich unzugänglich, beharrte auf die festgeschriebenen gesetzlich verankerten Regeln der Biennale-Direktion, dass alles 100 % genau beim Kauf der Karten abgewickelt werden sollte. Nur gegen Vorlage der Ausweise und auch dann nur mit Sichtkontakt auf die Menschen, denen die Ausweise als Identifikation gelten. Ich merkte gleich, dass sein allzu verbindliches Lächeln falsch war und habe erst gar nicht versucht, mit ihm zu handeln.
Als alle anwesend waren, rückte er die Tickets raus und die Gruppe konnte mit Verspätung das Gelände betreten. Das war der erste Akt. Als ich wieder zur Anlegestelle zurückging und das wunderschöne Wetter wie die weit und breit von Schiffen leergefegte Lagune bis zum Ausgang des Canale Grande, über die See bis zum Lido und nach den weitergelegenen Inseln bewunderte und einige bemerkenswerte Aufnahmen machen konnte, tuckerte ein Vaporetto heran und liess sich am Giardina-Anleger festtäuen. Eine Ausnahme? Ich weiss es nicht, denn beim Rückweg sah ich immer wieder vereinzelt Vaporettos durch die Lagune fahren und dachte mir, vielleicht nehmen sie es nicht so genau mit den Streikordern, vielleicht haben sie Mitleid mit den armen Passagieren oder den Bediensteten der Biennale, vielleicht hat ein superreicher Passagier die Kapitäne mit einem Batzen Geld bestochen, vielleicht war ich wirklich in Italien, wo seit 1945 mehr Regierungen in Rom eingesetzt und abgesetzt wurden, als man die Jahre zwischen dieser Zeit und heute zählen kann. Die Transportarbeiter, jene Schwerstarbeiter der tagtäglichen Versorgung, die Hotels, Restaurants und andere Dienstleistungsbetriebe beliefern mussten, waren mit ihren Kähnen sehr wohl unterwegs, mussten wahrscheinlich unterwegs sein, weil viele Subunternehmer sind oder selbständig. Was würde die begüterte Klientel in den Frühstückssalons sagen, wenn alles zusammenbrechen würde und die ausgesuchten Gaben für das leibliche Wohl der Gäste vollends ausbleiben würde? Wie heiss würden die Telefondrähte glühen, wieviel Angstschweiß würden bei den Koordinatoren des Streiks wie den Gastronomieverantwortlichen von deren Stirn abperlen, was würden die wartenden allmählich unruhig gewordenen Gäste sagen, die schon das Ausbleiben einiger Bediensteter bemerkt haben mussten? Sciopero. Der Italiener kennt das, soviele Streiktage wie hier, kriegen wir in Deutschland nicht in zehn Jahren zusammen. Der Italiener geht gelassen damit um, es ist wie das Wetter, man kann ohnehin nicht dagegen ausrichten.

Den Touristen auf dem Markusplatz schien man allerdings nicht anzumerken, dass irgendetwas besonderes vor sich gehen würde. Die Schlangen vor dem Campanile und dem Ducale waren wie immer lang und die Händler mit dem auf venezianisch getrimmten Andenkenschrott hatten zu tun wie eh und je. Che cosa?

 

Die nachfolgenden Bilder entstanden in den Morgenstunden: Venedig im Transportarbeiterstreik