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Wanderungen auf Giudecca und Lido

Wer Venedig nur auf die Hauptinsel mit den Überfluss an allem, was irgendwie schön, pittoresk und vor allem auch käuflich ist, reduziert und der häufig Nerv tötenden Geschäftigkeit, die schon an Hyperaktivität grenzt, entkommen will, sollte mal auf eine entschleunigte Gegend dieser vielen Laguneninseln mit dem Vaporetto übersetzen und der Rastlosigkeit, dem auf einen Ort komprimierten Massenwahn, eine schöpferische oder erholsame Pause zu gönnen. Giudecca, direkt gegenüber dem Zattere, auf der anderen Seite des Canale Giudecca, ist so ein Ort, auf dem man mit einem Male, kaum ist man aus dem Boot ausgestiegen, Stille, wenige Menschen und Easy Going erfahren und in sich aufsaugen kann.

Ich war schon oft auf dieser langgestreckten Insel, weil ich dem Rummel von San Marco, Castello, den Giardini, dem Arsenale und all den künstlichen, scheinbar allerorten künstlerischen Ambiente dieses ineinander verschachtelten Häusermeeres, in dem die Schaulustigen der touristischen „Weltentdecker“ wie jene kunstaffigen Hyperprofessionells des Kulturbetriebes wie Ameisen durch Gassen und Straßen, über Brücken und Plätze wimmeln und sich wahrscheinlich gar nicht bewusst werden, welchen wirklichen Nutzen sie dort suchen und eigentlich gar nicht wissen, ob sie etwas Befriedigendes oder Zufriedenstellendes finden können. Ihre Erwartungshaltung ist groß aber es ist fraglich, ob irgendwelche sinnstiftenden und Geist erweiternden Erkenntnisse am Ende des Tages tatsächlich hängengeblieben sind.
Sind es die Monumentalüberwältigungen eines Damien Hirst im Palazzo Grassi und der Punta de la Dogana, der morbid kritische Kunstcharme eines Jan Fabre im Kloster San Gregorio oder die Scampi in Cognacsauce mit Bärlauch-Gnocchi bzw. der Vino Nobile de Montepulciano Jahrgang 2011 in einem der zahlreichen hochgelobten Restaurants irgendwo zwischen Piazza Margherita oder Campo Formosa? Oder könnte es ein Blick von einer der zahlreichen Brücke in einen von der Sonne erstrahlenden Canale oder vielleicht der Ausblick über die Stadt von der Dachterrasse der ehemaligen deutschen Handelsmission sein, wenn in diesen Novembertagen schon ab 16 Uhr die Sonne am Horizont untergeht?
Venedig bietet alles, aber ob alles wirklich auch eine bereichernde Fülle ist, die Auge und Geist, vielleicht auch die Seele nähren können, weiß man erst so richtig, wenn man später zuhause über diese Reise vielleicht sogar mit etwas Wehmut zurückdenkt. In Venedig, wo sonst, weiss man ganz genau, dass alles vergänglich ist, denn die auf Pfählen gebaute Stadt hat zwar schon einige Jahrhunderte relativ gut überstanden, aber mit dem Klimawandel, dem Schmelzen der Polkappen, dem „El Niño“ Phänomen, der Erderwärmung und dem ungebremsten CO2-Ausstoß wird vor allem vielen gebürtigen Venezianern, die noch auf den Inseln leben, Angst und Bange, wenn sie an die Zukunft denken. 1-2 Millimeter sinkt die Stadt pro Jahr und wie hoch das Wasser demnächst steigen könnte, kann niemand so genau voraussagen. Eigentlich sollte gesellschaftliche Demut, tatkräftiger, der Vernunft obliegender, politischer Wille, aktives, ökologisches Handeln und die Besinnung auf ein „Nicht weiter so“ im Vordergrund stehen. Leider sind die politischen Verhältnisse zwischen den wechselnden Regierungskrisen in Rom, der fordernden Lega Norte in Venetien, den eurokratischen Verwirrspielen in Brüssel und der weltweit boomenden Tourismusmigration keineswegs so optimistisch zu deuten, wie es die aktuelle Lage erfordern würde.
Ich denke viel darüber nach, wie der Tourismus oder der schnelle und relativ kostengünstige Ortswechsel auch in weit entfernte Gebiete jenseits von Europa in unserer stetig ausufernden Freizeitgesellschaft in Zukunft aussehen kann und was wir selbst tun können, um dazu beizutragen, dass unsere Erde weiterhin alle Chancen des Überlebens hat.
Wir haben verstanden und für nächstes Jahr lediglich eine größere Reise angesetzt, die auch unter dem Zeichen der Nachhaltigkeit stehen soll. Aber zunächst möchten wir allen Mitreisenden, die sich dieses Jahr für Venedig entschieden haben, soviel Aussergewöhnliches aus Kunst und Kultur bieten, aber auch Kritisches und Nachdankenswertes innerhalb dieser Reise einfließen lassen.

Schon am frühen Morgen bin ich nach Giudecca gefahren, um die Leere und Einsamkeit auf dieser Insel erleben zu können. Um diese Jahreszeit ist es sehr ruhig zwischen San Giorgio und dem mondänen Stuckt-Hotel am anderen Ende der Laguneninsel. Wer auf der unmittelbar am Ufer liegenden Promenade entlangschreitet, trifft nur wenige Menschen, viele Läden haben noch oder schon geschlossen und auch wenn man sich durch die Seitenstraßen schlängelt, scheint die Insel wie ausgestorben. Der Briefträger läuft von Haus zu Haus, hin und wieder hält ein Lastkahn an einem Anlegesteg und Schiffsarbeiter laden Stückgut aus, einige ältere Menschen treffen sich und palavern miteinander, ansonsten könnte man meinen, dass man auf einer Robinsoninsel gelandet sei. Hinter den älteren Fassaden, die entlang des Ufers stehen, sind viele einfache dreigeschossige, auch für Italien typische Siedlungswohnhäuser gebaut worden, die meisten wahrscheinlich schon vor 1990, das kann man am Stil und an den Baumaterialien erkennen. Aber man baut überall neu, wo Brachen waren oder wo andere Gebäude abgerissen worden sind, werden moderne Häuser hochgezogen, vielleicht sind es auch Büros, Werkstätten oder Bildungseinrichtungen – in manchen Hinterhöfen befinden sich Handwerksbetriebe und natürlich hat sich auch die Biennale (oder vielleicht nur unter dem Label der großen Kunstschau) in einigen leerstehenden Räumen eingenistet. Ob diese Künstler, viele kommen aus Taiwan, Korea, Singapur oder China, wirklich von der Biennale eingeladen worden sind, oder sich eingekauft haben, kann ich nicht nachvollziehen. Meiner Meinung ist die Qualität einiger Künstler, ob auf der Hauptinsel oder hier in Giudecca, eher bescheiden und auch auf der Biennale sollte man sehr genau hinschauen, was Kunst, Künstlichkeit, Kitsch, Kommerz, Kryptik oder Kokolores ist.
Inzwischen habe ich das berühmte, altehrwürdige Textilunternehmen FORTUNY, Hersteller edler Gewebe, die wir schon vor einiger Zeit mit Gruppen besucht haben, von der rückwärtigen Seite erreicht und gehe weiter bis zum Haupteingang des Hotel Stucky. Zurück ist es wieder ein gutes Stück Weg, um zur nächsten Vaporetto-Anlegestelle zu gelangen.

Nachdem ich meinen Vortrag über die aktuelle Situation Venedigs und dessen Zukunftsaussichten oder Bedrohungen und Verwerfungen im Kloster Gregorio gehalten habe und sich die Gruppe von uns verabschiedet hat, verspüre ich den Sinn oder gehe der Absicht nach, entweder nach Torcello oder zum Lido zu fahren, je nachdem, welches Boot zuerst anlegt oder welche Anschlussverbindung am günstigsten ist.
Ich lande in Lido, diese Insel ist mir ohnehin schon lange ans Herz gewachsen, ist sie doch der Austragungsort der weltberühmten Filmfestspiele, aus deren Jurierungen immer wieder exzellente Filme in unsere Kinos gelangen. Eines ist besonders schön in Lido, die Insel ist grün und voller schöner Jugendstilvillen. Besonders das Hotel Ausonia Hungarian an der Stada Maria Elisabetta ist ein Juwel des Art Deco. Ich habe es betreten, ob es innen ebenso gut im alten Stil erhalten ist, aber leider durfte ich nur wenige Räume besichtigen. Vor zwei Jahren war ich kurz vor der Eröffnung im Hauptfestpielort und bin – wo liegt der Unterschied zum normalen Pflaster (darunter liegt der Strand) und war Harvey Weinstein auch schon dort – auch ein paar Meter über einen roten Teppich gelaufen.

Heute will ich zum Strand auf die gegenüberliegende Seite des schmalen Eilandes, weil ich gerne im Licht der untergehenden Sonne ein paar Belichtungsreihen ausprobieren möchte. Am Strand treffe ich einen jungen Koreaner mit seiner Freundin, mit dem ich mich einige Zeit sehr offen über Kunst, Kultur und Gesellschaft hier und in Asien unterhalten habe. Der junge Mann studiert in Mailand irgendeine neue Kunstdisziplin und weilt für einige Tage auf der Insel.
Ich sammele Muscheln und freue mich endlich wieder am offenen Meer zu sein, allein der salzige Geruch betört mich immer wieder, so dass ich am liebsten ein schnelles Bad genommen hätte. warum nicht, sage ich mir, denn das Wasser ist immer noch wärmer als die aktuelle Lufttemperatur. Aber ohne Handtuch, mit den beiden Kameras und mit all den mich umhüllenden Klamotten, nein, heute nicht, ich verschiebe das Schwimmen im Meer auf nächstes Jahr.Mit einem der letzten Vaporettos fahre in in der untergehenden Sonne ins pralle Leben der Hauptstadt aller romantischen Glückssucher dieser Erde.