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„Naturkatastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt. Die Natur kennt keine Katastrophen“,
                                                                                Max Frisch

Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, daß sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.
                                                                                 Blaise Pascal

In die Armbeuge niesen, anderthalb bis zwei Meter und Abstand halten. Wir bleiben zuhause. Das sind Richtlinien, die jeder problemlos nicht nur in Krisenzeiten akzeptieren kann. Aber das Kreuzworträtsel der themenbezogenen Worte oder Begriffe wird nicht jeder so einfach lösen können, auch wenn man permanent von dieser Verballawine überrollt wird. Corona, Krise, Ausnahmezustand, Katastrophe, Pandemie, nichts ist wie vorher, auf Leben und Tod, besiegen, Abstand halten, Quarantäne, Notstand, Lockdown, Exit, — Roger-Over-Piep. Der Höhepunkt dummdreister Verbalabsonderung war: Kann Christian Drosten auch Kanzler! Da fällt einem wirklich nichts mehr ein und das daraufhin einsetzende Fremdschämen grenzt an die Auswirkungen einer psychischen Implosion.

In den auf allen Sendern ausgestrahlten täglichen Talkrunden überschlagen sich Moderatoren, Redakteure, Wissenschaftler und vor allem Politiker mit immer spitzfindigeren und absurderen Themen und Wissenszumutungen zu der von Nichtwissen geprägten Krankheit. Überhaupt scheinen vor allem Politiker, Soziologen und Wirtschaftsvertreter jeder Couleur bei den Maskenbildern in den Studios Schlange zu stehen. Wenn man schon über so ekelhafte Viren debattiert, möchte man wenigstens telegen und gesund erscheinen. Während des Frage-Antwort Wechselspiels versucht jeder mit geschärftem Profil einen guten Eindruck zu machen, auch wenn die Fragen der Moderatoren zum großen Teil nicht beantwortet werden. Manche verwechseln wie immer einen Themenschwerpunkt mit einem vorgezogenen Wahlkampf. Die Stellenausschreibung zum CDU-Vorsitzenden ist immer noch vakant. Es heißt, Präsenz zu zeigen und als Meinungsvertreter der parteikonformen Sicht sich ins beste Licht zu setzen. Im Modus des Meinungsausstoßes gilt es, sich in der Auswahl der Worthülsen gegenseitig zu übertreffen. Alle Begriffe, die der wissbegierige Couchsitzer Tag für Tag tausendmal hört oder liest, zirkulieren über den ernsten Mienen der Anwesenden und der Zuschauer wartet gespannt auf erlösende oder tröstende Worte. Aber alle relevanten Begriffe, die diese extreme und vor allem unbekannte Situation beschreiben sollen, die eigentlich nicht vorgesehen war, die es eigentlich nicht geben dürfte und die nicht als erwartbar eingestuft wurde oder überhaupt als reale Möglichkeit von irgendeinem Politiker antizipiert wurden, verbreiten oft mehr Ratlosigkeit als Erkenntnis.

Von morgens bis abends werden wir von den Strategen des Krisenmanagements mit vorher sorgfältig einstudierten Floskeln überschwemmt, die von gut bezahlten Rhetorikcoaches mühsam in deren Köpfe gehämmert wurden. Das Volk erwartet Antworten, weil es beunruhigt ist, aber die Antworten werfen neue Fragen auf, die nicht beantwortet werden können. Beschwichtigende Ratschläge oder Behauptungen werden in den Raum gestellt, die der diffusen Angst vor der Zukunft entgegenwirken sollen, deren Gefährlichkeit aber kaum zu erklären ist. Alle schön geschliffenen Verbalinjurien haben kaum eine Chance, die Bedrohung von Leib und Leben, Gesundheit oder Krankheit, Wohlstand oder Niedergang, Sein oder Nichtsein, ja Leben und Tod so transparent zu machen, dass es auch jeder verstehen kann. So eindringlich auch argumentiert wird, die wichtigsten Indikatoren der Warnungen wie der Beschwichtigungen sind immer nur nackte Zahlen. Tabellen, Statistiken und Hochrechnungen, Sinuskurven, denen eines gemeinsam ist: das Unwissen über Ursprung, Verlauf und Folgen der sich weltweit in Windeseile ausbreitenden Viren. Das ist verständlich, denn ein unbekanntes Terrain kann nicht von einem Tag zum anderen erkundet und erforscht werden. 

Die von uns gewählten Vertreter des Staates, also der Gesamtbevölkerung aller Wahlberechtigten greifen sehr schnell zu einer Rhetorik, die fatal an Kriegsszenarien erinnern und dementsprechend aufgerüstet werden. Man muss genau zuhören, denn vieles, was gesagt wird und hypothetisch als Lösungsmöglichkeit erscheint, verschleiert nur das Unbekannte, was als ungesagt unter den Tisch fällt. Imperative werden geschnitzt, um keine Panik entstehen zu lassen und das „Ruhe bewahren“ wird als erste Bürgerpflicht zum Credo erhoben. Die Vorschläge, was dringend zu tun ist, wie man sich schützen kann, was vermieden werden muss oder wie andere vor einer möglichen Ansteckung bewahrt werden können, übertrumpfen sich gegenseitig und der allgemeine Tenor lautet, dass man alle Maßnahmen fest im Griff hat. Der erste Schritt zu der erzwungenen Selbstkontrolle durch Fremde wird schon erwogen, indem man die digitalen Geräte, die all unsere Schritte begleiten, zum Aufspüren der Viren und Infizierten eingesetzt werden sollen und gleichzeitig bedenkenlos einkalkuliert wird, dass bei diesen Maßnahmen, auch andere wichtige Daten der Grundrechte leider für eine gewisse Zeit angetastet werden könnten. Tracking und Tracing mit den vier großen W – Wer, Wann, Wen und Wo. Wer mit wem leuchtet ein, aber wann und wo gehört nicht in die Speicherplatten des Staatsapparates. Ob man sich überhaupt bewusst ist, dass Gesetze auch bei derartig bedrohlichen Massenerkrankungen, die für jeden Infizierten tödlich enden können, nur vom Parlament abgesegnet werden können. Die Gefahr spezieller Gelüste ist zu groß, die einigen eigenwilligen Parteigängern durch den Kopf gehen, weil sie Tür und Tor zur Beschneidung der Meinungs- und Bewegungsfreiheit weit offen reißen können. Das betrifft vor allem die Parlamentarier, die als Berufspolitiker (disziplinierte Parteigänger) den Bürgern über Listen zur Wahl für Bundes- und Landtage vorgestellt werden. Menschen, die wir als unsere, uns verpflichteten Volksvertreter beauftragen, die Geschicke des Staates in unserem Interesse zu lenken und zu bewahren. Von den 709 Abgeordneten des 19. Deutschen Bundestages waren vor ihrer Wahl 205 im Öffentlichen Dienst, davon haben sich 173 als Beamte einschwören lassen. 15,8 Prozent der Wähler werden nicht mehr durch die Fraktionen des Bundestags repräsentiert. Kann man diesen Bundestag dann noch als repräsentatives Abbild der Gesellschaft bezeichnen? Ist die Hälfte der Bevölkerung, die Frauen, gerecht quotiert vertreten? Wo sind die Handwerker, die Arbeiter, die Dienstleiter, die Gesundheitsexperten oder die Künstler? Immerhin gibt es ein paar Volksvertreter, die für Berufszweige stehen, die nicht über Jura-, oder die diversen Wirtschaftsstudiengänge ins Parlament kamen: Eine Musikerin (Violinistin), ein Pfarrer, ein Bäcker, ein Schauspieler und ein Lokomotivführer.
Die Medienformate Fernsehen, Rundfunk und Internet beschäftigen einige Journalisten und Redakteure, die als Meinungsmacher, Welterklärer oder Unterhaltungsdarsteller von der Gnade der Erleuchtung im Zuge der Bedrohung auftreten, weil sie alle zum Thema Unsichtbarkeit der gefährlichen Viren und der Sinngebung in Zeiten der Sinnlosigkeit etwas beizusteuern haben. Man sorgt sich, weil jeder betroffen sein könnte, man rät zur Vorsicht, weil alle die Gefahr ahnen, aber nicht wissen, wo sie sich verstecken könnte. Was gestern noch als sicher galt, kann morgen schon vom Verderben eingeholt werden. Und immer wieder wird die Frage durchgekaut: Was machen wir in dieser Krise, was ist diese Krise, warum hat uns diese Krise dermaßen schnell und überfallartig als Geisel genommen und wie kommen wir aus dieser Krise wieder heraus? Nach zwei Kontaktbeschränkungswochen wird am lautesten gefragt: Wann, wann endlich ist alles so wie früher. Nichts wird wie früher sein, das sollte uns die Zahlen und Maßnahmen endlich begreifbar gemacht haben.
Die Lektüre von Albert Camus Buch „Die Pest“ vermittelt anschaulich einen Einblick in die wahren Abgründe einer Seuche. Die Pest galt über Jahrhunderte als die große Geißel der Menschheit, weil trotz größter Anstrengungen kein Gegenmittel gefunden wurde. Ratten galten allgemein als die Übeltäter und Todesschwadronen und Ratten hielten sich dort vermehrt auf, wo die Bevölkerung einer Stadt oder Region  dicht an dicht zusammen lebten. Zusammen mit den herrschenden hygienischen Zuständen, Hunger, Armut und Unterdrückung entstand in Verbindung ein Nährboden, der die Population der langschwänzigen Nager exponentiell förderte. Camus Roman wird in der Literatur zwar als Parabel über Diktatur, Unterdrückung und Willkür gedeutet, aber die Beobachtungen und Eindrücke, die der Doktor Rieux in diesem Buch beschreibt, zeigt, wie eine tödliche Epidemie das leben aller umkrempelt. 1720 wütete die Pest in Marseille und breitete über zwei Jahre ein Leichentuch über der Hafenstadt aus. Venedig war immer wieder betroffen und im 14. Jahrhundert raffte die Seuche Hunderttausende zwischen Spanien, Frankreich, Südengland, Süddeutschland, Italien, dem Balkan Griechenland und der Türkei hinweg. Wahrscheinlich fielen 45–50 % der europäischen Bevölkerung innerhalb von vier Jahren der Pest zum Opfer. In den Mittelmeerregionen sollen, so schätzt man, 75–80 % der Bevölkerung gestorben sein. Aber nicht nur der „Schwarze Tod“, sondern Cholera, Typhus, Fleckfieber und Milzbrand reihten sich von Epoche zu Epoche in den Todesreigen ein. Und schließlich verwandelte sich die Spanische Grippe, die nichts mit Spanien zu tun hatte, zu einem Killervirus gemeinster Art und tötete zum Ende des Ersten Weltkrieges nahezu 50 Millionen Menschen. Damit nicht genug, der Kosmos der Viren scheint unermessliche Ressourcen zu besitzen, denn nach dem Zweiten Weltkrieg tauchten Masern, Pocken, HIV, Ebola, Schweinegrippe, Vogelgrippe und schließlich Corona-Sars-1 und MERS auf.

Das ist die schlimmste Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges tönten einige Politentscheider und -kommentatoren in den Medien! Geht´s noch? Konnte es nicht etwas undramatischer sein? Das Überprüfen dieser martialischen Aussage beinhaltet vor allem für die Nachgeborenen wenig Aussagekraft, aber irgendwie kommt einem der Vergleich zwischen Äpfel und Birnen in den Sinn. Wenn wir eine Rückschau halten, muss der Wahrheitsgehalt dieser Aussage als fragwürdig betrachtet werden.

Was ist eine Krise? Philosophen, Soziologen oder Psychologen können flugs eine Karteischachtel öffnen und erklären: K. bezeichnet eine über einen gewissen (längeren) Zeitraum anhaltende massive Störung des gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Systems. Krisen bergen gleichzeitig auch die Chance zur (aktiv zu suchenden qualitativen) Verbesserung. (Bundeszentrale für politische Bildung), älter Crisis = Krisis (2) < griechisch krísis = Entscheidung, entscheidende Wendung, zu krínein, kritisch; in der allgemeinen Bedeutung beeinflusst von französisch crise (etymologisch). Nach Hypokrates: „Die Krise bei den Krankheiten ist, wenn sich die Krankheiten verstärken, nachlassen, in eine andere Krankheit umschlagen oder aufhören“.

 

Bei genauerer Revision der letzten 75 Jahre ergibt sich allerdings ein gegensätzliches Bild. Nach 1945 wurde die Welt permanent von Krisen und Katastrophen, Kriegen und Hungersnöten, Genozid und den Zusammenbrüchen einiger Staaten und Blöcke heimgesucht. Das geschah aber nicht in unserer Nähe, es geschah vor allem weit außerhalb unserer Grenzen. Wir Deutschen lebten seit Anfang der Fünfziger Jahre mehr und mehr in der Komfortzone des wirtschaftlichen Aufschwungs im Zeichen einer nicht mehr zu bremsenden Wachstumsideologie und in einer individuell zu gestaltenden freien Marktwirtschaft, deren frohe Botschaft verkündete: „Amüsieren wir uns zu Tode“, wie es David Foster Wallace so treffend formulierte. Aus einer eher strengen Arbeitswelt, die sich mehr an Werte wie *Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit hielt, wurde in den Sechziger und Siebziger Jahren eine Erlebnis- und Freizeitgesellschaft. *(Eigenschaften mit denen man auch ein Konzentrationslager betreiben kann, sagte Oscar Lafontaine 1992 als Replik auf Helmut Schmidts Ausführung zu den „Sekundärtugenden)

In der Rückschau können wir konstatieren, dass schon der erste Palästinakrieg zwischen Israel und Großbrittanien sowie den Palästinensern unmittelbar nach Ende des Weltkrieges begann. Es folgte der Koreakrieg und Vietnamkrieg, der zunächst mit französischer Beteiligung und nach deren Niederlage von den US-Amerikanern jahrelang weitergeführt wurde. Vergessen wir nicht die Rassenunruhen in Südafrika und in den Südstaaten der USA, erinnern wir uns an Biafra, an den Sudan und an die Befreiungskriege in (ehemaliges Rhodesien) Zimbabwe, in Angola, im Kongo, in Mozambique oder in Algerien. Der Iran-Irak-Konflikt kostete Hunderttausende das Leben und das Afghanistan Dilemma beherrscht die Nachrichten seit mehr als 30 Jahren. Der Völkermord in Ruanda gilt als Genozid von Hutus an Tutsis und Pol Pot massakrierte alles, was gegen die Ideologie der Roten Khmer stand. Bis heute sterben und leiden die Menschen in Nahost an den Folgen der amerikanischen Invasionen in Kuwait und dem Irak. 

In der geballten Medienwucht der Coronahysterie verschwindet der Jemenkonflikt, die Tragödie Syriens oder das Schicksal der Rohingya in Myanmar. Es fehlen sicherlich noch einige kleinere und größere Konflikte, die irgendwo ausgebrochen sind, aber allein diese Aufzählung sollte ausreichen, um die Rhetorik der größten Katastrophe seit 1945 auf ein Normalmaß zurechtzustutzen. Sicherlich hat uns der Bosnien-Kosovo-Konflikt, der in unserer Nähe stattfand und immer noch brodelt, vor Augen geführt, dass schon vor unserer Haustür nichts mehr in Ordnung ist, wie wir glauben, zu meinen. Die Migrationswelle aus den platt gebombten Nahostländern zeigt uns hautnah, dass wir nicht unverletzbar sind. 

Der moralische und ethische Zustand der menschlichen Spezies in den großen Industrieländern ist dermaßen porös und es braucht kein Virus, um die Erde ins Chaos zu stürzen. Ja, wir hatten eine Ölkrise, mehrere kleine, aber nicht allzu schwerwiegende Rezessionen und den Crash der Banken, als die Zocker an der Wall Street und im Londoner Bankendistrikt den Hals nicht voll genug kriegen konnten und soviel Geld verbrannten, dass der Normalverdiener bei Sichtung der Zahlen von Schwindelanfällen geschüttelt wurde. Als Lehmann Brothers pleite ging, mussten Geldhäuser in Europa staatlicherseits gerettet werden, und die Krise traf wieder einmal die einfachen Lohnempfänger der unteren Mittelschicht besonders hart. Man nahm in Kauf, ärmere und wirtschaftlich schwächere Länder wie zum Beispiel Griechenland kaputt zu sparen und teilweise deren Regierungen von Sparkommissaren der EU bevormunden zu lassen. Die EU beschloss die Austeritätspolitik, um die kriminellen Machenschaften der Banken zu kaschieren, damit sie vor dem Kollaps bewahrt werden konnten. 

Aber ging es uns, die wir in den reicheren Ländern Mitteleuropas leben, dabei irgendwie so an den Kragen, dass wir uns einschränken mussten oder gar gelitten haben? Sind wir beim Bummel durch die Shoppingmalls in eine kollektive Depression gefallen? Konnten wir uns die Schweinefilets für 3,99 Euro nicht mehr leisten? Ich kann mich nicht erinnern. Oder gab es Anzeichen dafür, dass die Mehrzahl der Menschen ihren gewohnten Lebensstil nach unten korrigieren mussten? 

Ja, nach Inkrafttreten der Hartz IV Gesetze bangten viele, die sich in prekären Verhältnissen befanden, dass sie nun vollends durch die zynisch bezeichnete „Soziale Hängematte“ zu Boden plumpsen würden. Viele fielen und kamen nicht mehr auf die Beine. Mit den marktbeherrschenden Discountmultis Aldi und Lidl wurden die Menschen vor dem Schlimmsten bewahrt, auch wenn die „Tafeln“ vieler freiwilliger und ehrenamtlicher Helfer dafür sorgen mussten, dass es keinem so schlecht ging, dass sie um ihr Leben bangen mussten. Viele scheinen vergessen zu haben, dass noch im Januar die Klimakrise die Öffentlichkeit so vehement beunruhigte, dass die Regierungen ans Werk gingen, um erste Beschlüsse umzusetzen, um zumindest die Klimaziele 2030 zu erreichen. Die Zukunftsszenarien des Klimawandels scheren sich wie die Pandemie nicht um nationale Grenzen, politische Blöcke, Embargos oder Zollbeschränkungen. Klimawandel und Viren lassen sich nur mit äußerster Energie aufhalten und können nur durch eine weltweit konzertierte Aktion gestoppt werden. Beiden ist aber gemeinsam, dass sie inzwischen die gesamte Menschheit (mit Ausnahmen) wachgerüttelt haben.

Der Klimawandel ist wesentlich für die Entstehung dieser Pandemie mit verantwortlich, das ist nicht mehr zu leugnen. In China und anderen ostasiatischen Ländern wurde durch die Vernichtung der Lebensräume für Wildtiere und der Ausbreitung menschlicher Siedlungen die Nähe zu den Virenüberträgern wie Schuppentieren, Fledermäusen oder Flughunden stark verringert. Im Zuge dessen erhöhte sich die zoonotische Rate der Übertragung aus gefangenen oder getöteten Wildtieren. Im Organismus vieler Wildtiere tummeln sich so viele Coronaviren, dass der nächste Ausbruch einer Pandemie schon vorprogrammiert ist. Wenn man bedenkt, dass Wuhan und dessen Umgebung vor 50 Jahren noch ein Niemandsland war, kann man nachvollziehen, wie schnell die ökologischen und gesundheitlichen Folgen jede noch so als stabil bezeichnete Ökonomie angreifen kann.

Seit wir in Zeiten der Klimakrise leben, haben wir gelernt – spätestens seit dieser Zeit (Merke: Club of Rome, Die Grenzen des Wachstums, Der stumme Frühling) – dass alles mit allem zusammenhängt. Die Pandemie verkörpert aktuell den Kampf ums Überleben, aber wenn der Fall eintritt, dass sich die Erde um 2-3 Grad erwärmt, wird diese einschneidende Seuche völlig in den Schatten gestellt. Noch vor zwei Monaten waren die Auswirkungen der Klimaveränderungen Tag für Tag in allen Medien zu finden und die Klimaforscher wie viele Wissenschaftler aus fast allen Disziplinen waren sich einig, dass eine Erderwärmung um 3 Grad bis zum Jahr 2050 viele Millionen Todesopfer fordern würde. Diese Herausforderung gilt es jetzt zu meistern, gleichgültig ob die Pandemie weiter wütet oder nicht, denn die Fakten, dass sehr viel mehr Menschen durch die Klimakatastrophe sterben werden, sind eben ungleich höher. Das Paradoxon zwischen Pandemie Corona und Klimakatastrophe versteckt sich in der Tatsache, dass die Lebensgefahr während der Seuche unmittelbar jeden betrifft und sofort größte Angst auslöst, während die Klimakatastrophe immer noch zeitlich für eine noch ferne Zukunft wahrgenommen wird und die Menschen beruhigt glauben lässt, dass noch Zeit genug wäre, dieser Dystopie Herr zu werden. 

Die unterschiedlichen Staaten Europas verfolgten, nachdem gesichert war, dass es sich um eine Pandemie handelte, nach den Vorgaben ihrer nationalen Regierungspolitik und Gesundheitsfürsorge verschiedene Strategien, um eine weitere Ausbreitung zu verhindern. Trotz aller Anstrengungen geriet Italiens Gesundheitssystem an seine Grenzen und die hohen Zahlen der Infizierten und Toten ließen große Ratlosigkeit zurück. Wie das italienische Dilemma im nachhinein zu bewerten sein wird, bedarf jetzt keiner Diskussion. Ebenso wird Spanien und Frankreich später nach Ursachen und Versäumnissen suchen, aber letztendlich sind die europäischen Staaten meines Erachtens bislang einigermaßen an einer größeren Katastrophen um Haaresbreite vorbeigeschrammt. Aber, die entscheidende Frage wird sein, wie die Pandemie in den Ländern der dritten Welt, in diktatorisch gelenkten Staaten wie dem Iran und Weissrussland und in den Schwellenländern Brasilien, Indien und China bekämpft werden kann oder wie diese Staaten zusammenbrechen. Vergessen wir Russland nicht. Und Afrika, was wird aus Afrika. Schlägt die Pandemie, wie man es aktuell seit ein paar Tagen via Fernsehen in Ecuador sieht, dermaßen gefrässig zu, haben die dort lebenden Menschen nur sehr geringe Chancen, davonzukommen. Da nach Erkenntnissen der WHO und vor allem großer nationaler virologischer Institute die Sterblichkeitswahrscheinlichkeit der Kranken und der Älteren über 70 Jahren besonders groß ist, ist noch nicht abzusehen, wie diese Länder demographisch dezimiert werden. Wenn aufgrund fehlender Gesundheitsfürsorge kaum Apparate und Hilfsmittel vorhanden sind, werden auch viele jüngere Afrikaner sterben. In 27 Ländern Afrikas werden Infektionen angezeigt und die Befürchtung ist, dass die Pandemie Afrika besonders schwer treffen wird. Gleiches gilt für den 1,4 Milliarden Staat Indien, in dem noch nicht einmal eine personelle Identifizierung großer Teile der Bevölkerung möglich ist. Man rechnet damit, dass aufgrund der vollkommen überlasteten Gesundheitssysteme die Zahlen derer, die einsam oder kollektiv versterben überhaupt sichtbar werden können.

Die Pandemie verhält sich eindeutig klassenspezifisch, diese Erkenntnis kann schon jetzt aus den Krankheitsverläufen in Europa und den USA gezogen werden. In den reichen Industrieländern ziehen sich die Begüterten und Wohlhabenden in Landhäuser zurück oder haben sich mit ihren Yachten in der Karibik in sichere Häfen geflüchtet und schotten sich dort ab. Während diese reichen New Yorker auf ihren Yachten in der Karibik Business as usual fortführen und keinen Mangel haben, wird die Seuche in den Hütten der Slums reiche Beute machen. Allein diese schreckliche Gewissheit muss soviel Gewicht haben, dass in der globalisierten Community, vor allem bei uns, das Nachdenken und Handeln über Gerechtigkeit in eine neue ethische und moralische Dimension gerückt werden muss.

Europa oder die Europäische Gemeinschaft ist uns bei allen verstörenden Rundumblicken in der Welt einfach viel näher und erscheint mir in diesen Wochen weiter weg denn je. Allein, dass die EU schon vor dem Pandemie-Gau angeschlagen wirkte und man nicht nachvollziehen konnte, wie und warum das Procedere der Initiierung eines neuen Chefdiplomaten derartig strapaziert wurde, ließ viele Auguren mutmaßen, dass auf kurz oder lang das Projekt Europa Schiffbruch erleiden würde. Wie die beiden autokratisch gesinnten Volksverführer Orban und Kaczynski die Kommission in Brüssel düpierten, wurde von vielen als unverschämtes und tragikomisches Bubenstück dieser Renegatenwinzlinge vermerkt. Das Europa der Demokraten bekam eine Delle und nach den Statuten und Gesetzen gab es noch nicht einmal funktionierende Instrumente, um den demokratischen Charakter aller Mitgliedsländer auf eine einheitliche Linie zu führen. Nachdem Frau von der Leyen das Amt der Kommissionspräsidentin auf eigenartigen Umwegen übernommen worden wurde und die Bürger Europas gespannt in die belgische Metropole schauten, was sich nun innovativ, sozial und rechtlich ändern würde, wurde sie enttäuscht. Viel Champagner wurde entkorkt und dann aus Blechtassen getrunken. Europa und die Konfliktherde der Welt fielen durch das Nichtvorhandensein substanzieller Gemeinsamkeiten und durch Versäumnispredigten mit Unterlassungscharakter auf. In Polen und Ungarn wird sich die Zukunft der EU in der derzeitigen Konstellation der 27 Länder entscheiden oder aber wir können die Hoffnung auf ein Europa als demokratisches, freiheitliches, kulturell vielfältiges und sozial gerechtes Projekt für die Zukunft und als Counterpart zu den USA, Russland und China vergessen. In den Gründungsstatuten der EU ist festgeschrieben, wie sich die einzelnen Staaten untereinander in Fragen Wirtschaft, Finanzen, Recht, Freizügigkeit, Bildung, Wissenschaft und Gesundheit gegenseitig unterstützen und auf lange Sicht eine einheitliche föderale Gemeinschaft bilden. Die besonders betroffenen Staaten des Südens, insbesondere Italien und Spanien müssen dringend unterstützt werden und es grenzt schon an ein politisches Hasardspiel, wenn sich die Finanzminister und Regierungschefs aus Deutschland, Österreich, den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Luxemburg nicht auf einen gemeinsamen Nenner einigen können, um diesen Ländern zu helfen, die für den Erhalt ihrer Wirtschaftskraft und ihren Interessen genauso wichtig sind wie die Bürger der eigenen Länder. Die europäische Vernetzung lebt von Solidarität in allen marktwirtschaftlichen Bereichen und braucht die Solidarität der in Europa lebenden Menschen untereinander, damit die Ziele des gemeinsamen Projektes Europa erreicht werden. Humanitäre Hilfe und gegenseitige Unterstützung müssen die Basis sein, wenn außer freien Grenzen (die jetzt geschlossen sind) ein paneuropäisches Konglomerat nach demokratischen Bedingungen und im Sinne der europäischen Werte, die in der Formel „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ zusammengefasst sind, entstehen sollen. Inzwischen sind 550 Milliarden als Hilfe zur Verfügung gestellt worden, um die gravierenden Folgen der Krise in einem Akt der Stabilisierung aufzufangen, aber Italien und Spanien brauchen viel mehr Geld, weil deren Wirtschaftssysteme kurz vor dem Bankrott stehen. Der Premier der Niederlande sagt aber „dat gaat niet“ und somit sind die wichtigsten Hilfsmaßnahmen erneut verschoben. Fraglich ist, wie und von wem dieses Geld verteilt wird, wenn es denn abgerufen wird, und welche bürokratische Hürden dabei überwunden werden müssen. Die Minister in Brüssel klopfen sich gegenseitig auf die Schultern und loben diese „historische“ Entscheidung“ als europäischen Akt der Einigkeit und Solidarität. Davon sind sie noch weit entfernt.
Aber das Dilemma der 1500 elternlosen Flüchtlingskinder, die in überfüllten Flüchtlingscamps auf Lesbos über alle Maßen gefährdet sind, müssen in unsere Staaten geholt werden wollen, so lautete das Versprechen einiger europäischer Innenminister. Anstatt die fehlende Spargelernte zu bejammern, hätten diese Kinder schon lange gerettet werden können. Von allen anderen Flüchtlingen, die vor der Festung Europa darben, ganz abgesehen. Kein Land ist eine Insel und der Erste, der das einsehen musste ist BoJo aus London, der zwar eine Insel regiert, aber ohne Hilfe von außen nichts ausrichten kann, um das britische Königreich vor allen schwerwiegenden Folgen, nicht nur der Pandemie, zu schützen. Der Premier wurde vom Virus erwischt und ist nach einem Klinikaufenthalt inzwischen entlassen worden. Vielleicht denkt er jetzt darüber nach, wie das britische Nationale Gesundheitssystem zu reformieren ist.

Zum Abschluss zwei Filmtipps:

Der furiose Virus-Schocker „Contagion“ zeigt, wie rasant sich Krankheiten in Zeiten der Globalisierung verbreiten . . . „. Daniel Kohlenschulte schrieb in der Berliner Zeitung: „Der Intellektuelle Soderbergh ist nicht gerade als Sentimantalist bekannt, und auch hier schützt ihn sein kühler Kopf vor dem Allzu-Plakativen. Normalerweise sind Katastrophenfilme voll herzzerreißender Sterne- und Abschiedsszenen  Soderbergh zeigt lieber, wie sich zwei Helfer darüber unterhalten, wann ihnen die Leichensäcke ausgegangen sind.“ 


Mein persönlicher Tipp ist der Film „Das Unheil“ von Peter Fleischmann aus dem Jahre 1972, der eine kollektive gesellschaftliche Überforderung in einer hessischen Stadt während einer Transfonmationszeit mit eindrücklichen Bildern zeigt.

W.N. 2020 Ostern