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Last Exit Reims

 

„Räns, sagen Sie Räns“, meinte die Frau, die neben mir in einer Strandbar an der Bucht von Brehec saß und sich schon nach wenigen Minuten als CoDeutsche outete. Was hatte ich gesagt: Räms, sicherlich nicht Reims, das würde nicht aus meinem Mund in den Gehörgängen anderer Hammer, Amboss und Steigbügel ins Knirschen bringen. Dabei ist das m zwischen ei und s gar nicht mal so falsch, weil viele Franzosen im Schlund einen leichten Klang des m mit dem des s zusammenziehen. Außerdem sprechen und intonieren die Bretonen unterschiedlich zum phonetischen Duktus der Normannen, Auvergnern, Provençalen oder Elsässern. Wie bei uns zwischen Bayern, Hessen, Westfalen oder Berlinern. „Icke Baliner, wa Keule“. Oder so. Pari oder Pariss? Egal, wir wissen ja, Hauptsache Belgien.

Didier Eribon, der bekannte französische Soziologe schrieb vor einigen Jahren das bemerkenswerte Buch „Rückkehr nach Reims“ und behandelte in der Rückschau seine Jugend in der Champagne und die Veränderungen, die in den französischen Regionen seit Mitterand entscheidende Akzente innerhalb der politischen Strukturen setzten.
Reims und die Champagne werden zwar immer in einem Zusammenhang genannt, aber die wenigsten wissen, dass die CHAMPAGNE nicht unbedingt Reims, Epernay oder Ay ist. Die Weinberge rund um Reims, aus deren Trauben so international renommierte Edelgesöffe wie Taittinger, Bollinger, Pol Roger, Moet Chandon, Roederer, Laurent Perrier oder allen voran Dom Perignon vergoren werden. Wir Deutschen hatten jahrelang ein seltsames Verhältnis zu den französischen Schaumwein-Edelmarken und in meiner Erinnerung aus Jugendtagen gab es eigentlich nur Pommery und wer mit Pommery herumprotzte und auf dicke Hose machte, war schon wer, gleichgültig ob neureich, altreich oder kriminell. Zusätzlich sorgte die methode champenois für Kopfschütteln, denn im Land von Rüttgers Club, Deinhardt, Faber, MM oder seit 1989 der DDR-Champagner Rotkäppchen war das Sekt und wurde Sylvester heruntergegurgelt oder bei Empfängen regionaler Politiker und Unternehmer serviert – mit schön dekorierten Häppchen mit Lachs und Petersilie. Das alte Geld zwischen Krupp, Thyssen und den abgehalfterten Adelshäusern soff natürlich Champagner und bei Pommery wurden schon die Mundwinkel nach unten gezogen. Das Wirtschaftswunder erreichte mit Söhnlein Rheingold und Mumm, Forelle Müllerin und Schweinefilet ihren Höhepunkt. Aber wir Deutschen wären nicht wir DEUTSCHEN, wenn in uns nicht das Verlangen nach Höherem und Größerem immer wieder antreiben würde. Wer zu Geld kam und mal 30 Mark übrig hatte, leistete sich auch Champagner und versaute sich anschließend den Magen mit Jägermeister. Außerdem schien vielen die Methode, den Champagner zu keltern als zu übertrieben und mit Kopfschütteln wurden Flaschengärung, Rütteln, Dosage und Degorgieren bedacht. Wer sich aber auskennt, weiß, dass gerade diese typischen Eigenheiten der Champagnervergärung den Hochgenuss des Schampus ausmachen. Laut geschichtlicher Überlieferung waren es Mönche und andere Sakrifixe der Ideenfindung, die in und um Reims die Kronjuwelen der Weinerzeugung erfunden oder gefunden haben. Drei Rebsorten begründen die Auszeichnung Champagner als strikt regional geschützte Marke seit dieser Zeit: Pinot Noir, Pinot Meunier und Chardonay.
Wer sich geografisch auskennt wird zu Bedenken geben, dass das Weinbaugebiet an der Grenze zu Belgien zu sehr nördlich liegen würde, um derartige Spitzenerzeugnisse zu kreieren, aber das erweist sich als Trugschluss, weil ja auch Nahe, Mosel und Ahr auf ähnlichen Breitengraden liegen. Reims ist Champagner, aber Champagner ist nicht Reims alleine. Es liegt nahe, dass mit dem edlen und teuren Produkt auch der Wohlstand der Stadt profitiert hat und tatsächlich ist in den Straßen und Gassen rund um die berühmte Kathedrale das Geld bei sensibler Wahrnehmung zu riechen. Was die vielen Deutsch klingenden Namen bei einigen Marken betrifft, ist es notwendig die Kapriolen der Geschichte näher zu kennen. Der Ruf des Schaumweines, da kann man* daran rütteln wie man will, drang in die deutschen Weinbaugebiete vor und zum Ende des 18. Jahrhunderts zogen junge Winzer und Handelsgehilfen, die Namen sprechen für sich (Deutz, Krug, Mumm, Bollinger, Roederer, Heidsieck oder Piper) nach Reims und Epernay, weil die Zukunftschancen des Edelgetränks beste Aussichten auf Ruhm und Wohlstand offenbarten. Bis heute sitzen deutschstämmige Fachleute in den Chefetagen der großen Champagnerdynastien. Allerdings sorgten wir Deutsche, also einige unserer Vorfahren, auch dafür, dass Deutschsein bis weit ins 20. Jahrhundert mit Krieg, Zerstörung und der ersten großen Materialschlacht in Verbindung und Verruf gebracht wurden. Da wissen die Nachfahren der Witwe Cliquot ein garstig Lied von zu singen. Zum Schluss der önologischen Reise muss noch eine Besonderheit erwähnt werden, die die Bezeichnungen der Flaschengrößen betreffen. Hier einige Beispiele: Bouteille (normal 0,75l), Jeroboam (1,5 l), Methusalem (6l), Nebukadnezer (15l), Melchior (18l) oder Melchisedech (30l). Warum, wieso, weshalb. Es gibt einige Spekulationen, aber keine tragfähige Evidenz, außer dass die biblischen Namen aus mönchischen Eigenheiten abzuleiten sind, eine Extravaganz für die sakrale und profane Elite, die zur Extravaganz einer Geld- und Jet-Set-Elite avancierte. Sei´s drum, nach einer Flasche Jeroboam hören Anarchist und Erzpriester die gleichen Engel singen.

Didier Eribon´s Untersuchungen über den Wandel der Gesellschaftsstrukturen und der Transformation innerhalb der Arbeiterbewegung führen den interessierten Flaneur außerhalb der beiden Metropolen Reims und Epernay. Dort in den Zentren der Champagnerproduktion, stecken manche die Profite, die vor allem auch amerikanischen, japanischen und in den letzten Jahren chinesischen Gaumenpräferenzen zu verdanken sind, in Museen, Stiftungen oder großangelegten Immobilienspekulationen. Aber über die Grenzen der Rebflächen sieht das Leben der Bewohner der Departments: Ardennes, Aube, Haute-Marne, Marne, Meurthe-Moselle (Teile des Großdepartments Grand-Est) sehr viel einfacher und mühseliger aus. Champagne bedeutet nichts anderes als Ackerland und dieses Ackerland, Wiesen, Wälder und Felder nehmen die größte Fläche all dieser Departements ein. Eribon verweist in seinem Buch auf einen fundamentalen Strukturwandel und aufgrund seiner Erfahrungen als homosexueller Intellektueller auf eine erschreckende Innenansicht des ehemaligen Proletariats hin:
Achtung Quelle: Notiz aus dem Perlentaucher und wiederum Auszug eines taz-Artikels
von Christiane Müller-Lobeck vom 23. Juli 2016. OK?

Christiane Müller-Lobeck kann nur den Kopf schütteln: Wie kann dieses virtuose Buch, das nicht nur bewegend den schwierigen Werdegang eines schwulen Fabrikarbeitersohnes zum bedeutenden französischen Intellektuellen schildert, sondern auch den Erfolg des Front National analysiert, erst sieben Jahre nach der französischen Veröffentlichung auf Deutsch erscheinen, fragt die Kritikerin. Mit Blick auf den Brexit und AfD-Erfolge bleibt das Buch dennoch ungebrochen aktuell, versichert die Rezensentin, die bei Eribon erfährt, dass möglicherweise der Dirigismus der französischen Kommunistischen Partei für den Zulauf von Linken zu den „autoritären“ Versprechen der Rechtspopulisten verantwortlich ist. Ein lesenswertes Buch, das auch unbequeme Lösungsvorschläge liefert, lobt Müller-Lobeck.

 

Reims und der 1. Weltkrieg bedeutet auch die willkürliche und strategisch unsinnige Zerstörung der Stadt durch die deutschen Militärinvasoren am 19. September Der Granatbeschuss spielte sich schon seit ein paar Tagen ab, aber ab dem Nachmittag des 19. September 1914, bei dessen Bombardierung durch große Mörser bewusst die gotische Kathedrale ins Visier genommen wurde. Diese architektonisch und kunstgeschichtliche Bauwerk nimmt bei den Franzosen in ihrem Geschichtsbewusstsein ihrer Grande Nation den Status eines Heiligtums ein, denn es ist die Krönungskirche der französischen Könige. Aus den deutschen Stellungen schlugen mindestens 25 großkalibrige Granaten in das Bauwerk ein und lösten Brände und Zerstörungen aus, die erst Jahre später wieder restauriert werden konnten. Aufgrund strategischer Maßnahmen nach dem Scheitern des sogenannten Schlieffen-Plans besetzte die französische Armee während der 1. Marneschlacht die Stadt, während die deutschen Truppen mehr und mehr zurückgedrängt wurden. Das Oberkommando der deutschen Invasionsarmee mit von Moltke, von Kluge und den von Bülows mussten einsehen, dass die französisch-englische Armee nicht zu besiegen waren und zogen später nördlich Richtung Flandern, um einen gewaltigen Todesacker und verbrannte und zerbombte Erde zurückzulassen. Vor Jahren bin ich bewusst die Straße der Soldatenfriedhöfe entlanggefahren und habe einige dieser mit weißen Kreuzen übersäten Todesacker durchstreift. Zwischen Verdun, Sedan, Douaumont reiht sich ein Todesstreifen bis Ypern im flandrischen Belgien. Wer die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts besser verstehen will, sollte sich einmal in diese einen Schaudern lassende Gegend fahren.

Reims lag in jenen Tagen außerhalb des tatsächlichen Frontverlaufs und umso barbarischer ist die Zerstörung der Kathedrale zu bewerten. Die adligen Kommandeure der deutschen Wehrmacht, arrogante Chauvinisten und Revanchisten, die aus sicherer Entfernung ihre Befehle erteilten, versuchten die Zerstörung der Kathedrale mit der läppischen Ausrede zu rechtfertigen, dass ein französischer Wachposten auf einem der Türme der Kathedrale den gezielten Beschuss provoziert habe. Heute würde man sagen, dass es böswilliger Militärterrorismus war. Die Zerstörung der Kathedrale von Reims wird in Frankreich bis heute als ein Zeichen der Demütigung wahrgenommen und wird immer eine Wunde in den Deutsch-Französischen-Beziehungen bleiben. 2000 gotische Skulpturen fielen dem Beschuss zum Opfer, die große Rosette brannte und brach zusammen, überall wüteten Brände, das bleierne Dach zerschmolz und am Ende war das stolze gotische Bauwerk eine Ruine.

Was Katastrophe bedeutet sehen wir in diesen Tagen bei uns rund um Köln und wir können froh sein, dass die Stadt bis auf die ständige Hochwassergefahr verschont geblieben ist. Menschenwerk, Menschenwillkür und die Antwort der Natur und des Klimas vermögen den Planeten zu zerstören

Wir hatten ein Hotel in der Innenstadt gebucht und sind nachmittags durch die historische Zentrum gestreift, ohne irgendwelche kunstgeschichtlichen oder erlebnisorientierten Stippvisiten zu unternehmen. In Straßencafés herumlümmeln, gut essen und die Kathedrale in all ihrer Pracht zu bewundern, mehr haben wir nicht unternommen. Und die Sonne schien, ein seltenes Vergnügen, das wir ausgenutzt haben. Unter allen Kathedralen, die ich inzwischen in Frankreich und Deutschland beehrte habe, gehört das großartige  Gotteshaus in Reims zu den Schmuckstücken gotischer Bauwerkskunst. Am anderen Tag sind wir schon bei Dauerregen über Charleville durch Belgien nach Köln zurückgefahren und können von Glück sagen, an diesem Tag die Heimreise angetreten zu haben.

Wolfgang Neisser, 17. Juli 2021

Jetzt ein Fenster von Imi Knoebel in der Kathedrale