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Einander verstehen - mitten im Leben

Nachdem wir das allgemeine Programm mit der letzten Gruppe gut zu Ende gebracht hatten, wurde der letzte Punkt, allen einen wunderbaren Panoramablick über ganz Athen vom Lykavittos-Hügel (Lycabettos) zu bieten und gleichzeitig einen geschichtlichen Schnelldurchlauf über 200 Jahre griechischer Geschichte Revue passieren zu lassen, am vierten Tag mittags auf der Ansichtsplattform des Hügels beendet. Erst hier in luftiger Höhe wird den meisten Besuchern klar, wie groß oder weitflächig Athen wirklich ist, auch wenn man in der Ferne den Blick nirgendwo richtig festmachen kann. Danach trennten wir uns von den letzten Besuchern, weil einige schon am gleichen Tag zurückflogen. Wir hatten noch zwei freie Tage vor uns, allerdings bleibt während dieser Zeit immer noch eine Menge zu erledigen. Das ist die Nachbarbearbeitung und teilweise schon Vorbereitung auf das, was noch im Terminkalender steht.

Weil für mich das Exarchia-Viertel zwischen den Universitätsgebäuden im klassizistischen Stil des Hofarchitekten Ziller am Boulevard Panepistimiou und dem geschichtsträchtigen Polytechnikum unterhalb der Tositsa-Straße eines der interessantesten Quartiere Athens bedeutet, bin ich noch einmal dorthin gewandert. Hier wohnen sehr viele Studierende sowie Lehrende, Künstler, Menschen, die alternative Lebensformen ausprobieren, aber auch eine subkulturelle politische Szene und viele, die ins Drogen- und kriminelle Milieu abgerutscht sind. Das zeigt sich vor allem am äußeren Bild der Straßen, Häuser oder Wände, die über und über mit Plakaten über politische und kulturelle Ankündigungen beklebt sind, aber vor allem mit den unterschiedlichsten Formen von Graffitis, Stencils und Street-Art mehr oder weniger geschmückt wurden und für einige Motive als riesige steinerne Darstellungsflächen gedient haben. Vom Polytechneio, dort wo 1973 bis 1974 von den protestierenden Studenten in zähen und blutigen Straßenkämpfen mit den Spezialkräften der Polizei und dem Militär, unterstützt durch Panzer, der Anfang vom Ende der Terrorjunta der Obristen Papadopulos, Pattakos und Zeitakis begann, geht es leicht bergauf zum kleineren Hügel Logos Strefi. Wenn man dann die Straßen in Richtung Platia Omonia oder der Innenstadt herunterschlendert, schreitet man durch ein buntes Häuserplanquadrat eines der größten subalternativen Lebensexperimentierfelder, die ich bislang gesehen habe. Erstaunlicherweise gibt es trotz des Grundtons bei der Bausubstanz des Viertels, bestehend aus grauen, körnigem Beton, abblätternden Putz, den obligatorischen verschmutzten Marmorfassaden und einigen verfallenden Häusern, die die Narben und Spuren der Vernachlässigung tragen, sehr viel Grün, Bäume, Sträucher, sogar Blumen, aber auch überall wucherndes Unkraut, das aus allen Ritzen und Löchern spriesst. Der prekäre Zustand ist das Resultat der nun schon fast 10 Jahre andauernden Krise, dessen gravierende Folgen sich wegen der fehlenden Geldmittel hier in ein ehemaliges intaktes, bürgerliches Wohnviertel eingefressen haben. Aber die collagierten oder decollagierten Fassaden und die teilweise überdimensionalen Sprühbilder und die Fülle der Schablonengrafiken zeigen eindeutig den Freigeist der hier lebenden, studierenden oder arbeitenden Menschen und eine unbändige Kreativität. Vielleicht könnte man dieses urbane Bild die Ästhetik des Widerstandes in Athen nennen. Gleich in einer der ersten Straßen sehe ich eine Kellerkneipe oder ein Café, welches gut besucht zu sein scheint. Draußen wird diskutiert, man sitzt auf Gartenstühlen, eine hübsche junge Frau mit langen schwarzen Haaren und dem scharf geschnittenen Profil des mediterranen Menschen läuft hin und her und bedient die Gäste. Hier ist die Stimmung locker und entspannt, man geniesst einen freien Tag, denn es ist der 1. Mai. Während rund um den Syntagma große Kundgebungen abgehalten werden, scheint hier der Traditionstag der Arbeiterklasse keine Rolle zu spielen. Die gesamte Gasse ist eher ein bewachsener Tunnel, denn die nach oben zusammenwachsenden Bäume oder Sträucher spenden den Schatten, der bei annähernd 30 Grad notwendig ist. Hier will man verweilen, trotz der Hitze, die über Athen hängt. Einige Straßen und viele Graffitis weiter, kehre ich in einer anderen Kneipe ein, die schon die Zeichen der Zeit und die Diversifizierung des gastronomischen Angebotes verstanden zu haben scheint. Die Getränkeangebote zeigen, dass man unbedingt aus einer Schmuddelecke heraus will, dass man einen gewissen Stil zeigen möchte, der jenseits der Krise liegt. Selbst das gute Chimay, Trappistenbier aus Belgien, steht im Kühlfach neben Corona, Erdinger, Budweiser, Mythos und Alpha. Hier geht es offensichtlich akademisch gepflegter oder systemischer zu, man versucht, sich sich in eine kommende Zeit hineinzustrukturieren.
Inzwischen habe ich mich ein wenig in Athen verguckt, da wachsen Sympathien an eine Stadt, die leidet, aber sich trotzdem stolz, relativ unaufgeregt und irgendwie trotzig gegen die brutal operierende Austeritätspolitik der EU, des IWF der EZB und der vielen politischen Zuchtmeister der mitteleuropäischen Regierungen zu wehren scheint. Sie trotzen dem Druck und der permanenten psychischen Belastung des Mangellebens und versuchen dennoch ein Leben zu führen, das immer wieder ein Lachen und viele ironische Bemerkungen hervorbringt, die aber sehr selten verletzend wirken. Ich bin ein Deutscher, ein Landsmann jener Politiker, die immer wieder als Mitverantwortliche genannt werden und heiße auch noch Wolfgang, worauf unmittelbar die sprachliche Reaktion „Schäuble“ erklingt, die aber trotzdem meistens mit einem versöhnlichen Lächeln oder Schulterklopfen entkrampft wird.

Wir Deutschen sind seit zweihundert Jahren neben den Briten die engsten Partner der Griechen, allerdings weiß die Geschichtsschreibung nicht so viel Negatives über die Verflechtungen des United Kingdom zu berichten als über die der Deutschen. Nachdem die osmanische Herrschaft beendetet worden war und die danach regierenden Griechen irgendwie keinen Konsens über die Frage des Staatsoberhauptes erzielten, schickten wir ihnen, allerdings auf deren ausdrücklichen Willen und dem Druck anderer europäischer Monarchien, unsere Prinzen aus der zweiten Reihe, erst Otto aus Bayern und dann Georg aus dem Norden. Beide wurden zu Königen gekrönt und das Deutschtum aus Bayern wie aus Schleswig-Holstein wirkte sich prägend auf die Gestaltung des Landes im Athen des 19. Jahrhunderts aus. Mit Schliemann, Ziller und Fix und anderen philhellenischen Eliteintellektuellen, die entweder aus griechischen Emigrantenfamilien aus der Zeit der Osmanenherrschaft stammten oder gebildete Deutsche mit hellenisch gefärbten Vorlieben waren, entstand das neue Athen in klassizistischer Architektur, mit höfischen Zirkeln und deutschen Handelshäusern.
Nach der gescheiterten Invasion der Mussolini-Truppen 1940-41 übernahmen die deutsche Wehrmacht und in deren Gefolge die Naziprotektoren das Heft in die Hand und errichtete eine Terrorherrschaft, die 1944 mit der Verwüstung des Landes während des schmählichen Rückzuges endete. Von den Fünfziger Jahren bis 2014 beherrschten dann einige der einflussreichsten Familien, die auch enge Beziehungen zu der neuen BRD pflegten, die höchsten Regierungsämter, um dann das Land Schritt für Schritt mit Hilfe anderer millionenschwerer Oligarchenfamilien wie eine Weihnachtsganz auszunehmen und es in den Bankrott zu treiben. Nach der großen, weltweiten Finanzkrise 2007-2008 wurde Griechenland unter dem primären Einfluss der deutschen Regierung im Verbund mit den anderen europäischen Staatsoberhäuptern und deren Finanzministern in eine Sparpolitik getrieben, die das gesamte Land und dessen Menschen die prekärste Periode ihrer Geschichte erleben ließ. Einige Medien ließen keine Gelegenheit aus, die Menschen als faul, hinterhältig und unmoralisch zu bezeichnen. Die wahren Schuldigen dieser traurigen Misere, Politiker, Banker, Reeder und die Mehrzahl der Superreichen können und werden nicht zur Rechenschaft gezogen, weil man sie rechtlich nicht haftbar machen kann oder weil man ihrer nicht habhaft wird. Wer die geschichtlichen Gesamtzusammenhänge nicht kennt, wird weder das Land noch die Leute und deren Mentalität jemals verstehen.

In allen Stadtteilen rund um den Omonia-Platz oder treffender in Psirro, Metaxourgio, Keramikon und Exarchia sind die Auswirkungen der Krise und einer Verarmung oder teilweisen Verelendung deutlich zu sehen, wobei in Exarchia, das als anarchistisches und aufrührerisches Quartier gilt, einerseits die negativen Folgen deutlich sichtbarer sind t, andrerseits der Widerstand, die Wut, die Kreativität und das Nichtetablierte und das bewusst Aussenstehende zeigt. So ähnlich, aber viel maroder, düsterer, aber auch alternativer war mir Kreuzberg in Berlin zu Beginn der 70er Jahre vorgekommen, als ich dort gewohnt habe. Kreuzberg war eine Exklave des Antibürgerlichen mit existentialistischen, dadaistischen und psychedelischen Avancen, die dem Ku’damm huldigenden Touristen verschlossen blieb. Die meisten dieser nach Berlin Reisenden trauten sich erst gar nicht, mit der Linie 1 über das Gleisdreieck zum Schlesischen Tor hinauszufahren. Exarchia vermittelt auch diese Atmosphäre wie ich sie vor einigen Jahren im Gracia-Viertel in Barcelona oder in der Alfama in Lissabon erlebt habe. Die Gentrifizierung, die alle alten Kieze langsam zu verschlingen droht, um sie dann fein säuberlich und wohlgeformt wieder auszuscheiden, wird auch hier nicht Halt machen, wenn es Athen irgendwann einmal besser gehen wird.

Zwei Tage vor unserem Abflug nach Deutschland musste ich erschrocken feststellen, dass ich mich mit der Anmietung des Apartments und dem Abflugtag um einen Tag vertan hatte und dachte schon, dass wir für eine Nacht ein Hotel würden buchen müssen. Bei unserem Gepäck, schließlich war eine gesamte Fotoausrüstung, zwei Notebooks und ein Reisedrucker dabei, ahnte ich schon das Schlimmste, als ich bei booking.com die ersten Hotels auf den webseiten inspizierte. Aber Sakis, unser Vermieter, löste das Problem und lud uns ein, diesen letzten Tag in seiner Wohnung gegenüber des Polytechnikums zu verbringen. Er, sein Freund Giorgios, zwei Hunde und eine Katze nahmen uns auf und an diesem Tag wurde mir klar, was Gastfreundschaft und griechisches Leben in der Krise wirklich ausmacht. Ohne das Motto der documenta noch einmal aufzugreifen, möchte ich betonen, dass ich diese Art der Gastfreundschaft und des Entgegenkommens in allen Mittelmeerländern schon erlebt habe. Wir haben auf dem wunderschön gestalteten und bepflanzten Balkon gesessen und viel diskutiert und gemeinsam gegessen, sofern das möglich war. Beide teilen sich ein Taxi und betreiben es im Schichtbetrieb, um möglichst gut verdienen und über die Runden kommen zu können. Ein Taxi muss fahren, sonst kostet es unnötig Geld.
Uns werden die Wochen in dieser häßlichen und schönen, hektischen und geruhsamen, warmen und freundlichen Stadt immer in Erinnerung bleiben und es ist sicher, dass wir oder ich oder wir mit wem auch immer noch einmal eine Athenreise machen werden.

wn