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Letzte Verlockungen, Versuche den Sommer zu fangen.

Wer mich vor 40 Jahren gefragt hätte, ob ich nicht Lust haben würde, Rennes zu besuchen, dem* hätte ich zum einem einen Vogel gezeigt und zum anderen, würde ich wahrscheinlich nur sehr vage gewusst haben, wo Rennes eigentlich geografisch zu verorten ist. Bis vor kurzem gab es auch keinen Anhaltspunkt, wodurch sich diese Stadt würde auszeichnen können, aber wenn Mensch* einmal für ein paar Wochen in der Bretagne ist, wird er schon auf einige Fährten aufmerksam, die einen Zugang zur städtischen Geschichte und Entwicklung dieser bretonischen Capitale eröffnet. Sicherlich kennen viele Brest oder St. Malo, vielleicht auch Quimper oder Morlaix, aber bislang habe ich von niemanden gehört, Rennes in irgendeiner Weise auf dem Schirm zu haben. Wir waren drei Tage in Rennes und auch mit den üblichen Abstrichen, was den bretonischen Hang zur feuchten Witterung betrifft, kann ich Rennes nur als sehr schöne und lebendige Stadt bezeichnen. Was nichts heisst, denn jeder mittelmäßige Werbetexter kann sich eine derartige Floskel aus dem Gehirn schrauben, aber ganz ehrlich, bei mehr Sonne und ohne die lästigen pandemischen Begleiterscheinungen ist Rennes eine Reise wert

Im Regen verließen wir unser schönes Domizil bei Jacques in Guingamp und fuhren die wunderbare Nichtautobahn N12 in Richtung Rennes. Bei der Ausfahrt sah ich noch einen Austernstand versorgte mich mit einem Dutzend der leckeren Meerestierchen, bevor wir auf die große Straße fuhren.
In der Bretagne gibt es keine Mautwegelagerung, aber die großen Nationalstraßen sind als Autoroutes ausgebaut und der Steuermann-Frau-respektive LGBTQI* kann den Abzockern des Staates oder privaten Besitzern der langen und grauen Asphaltbahnen eine lange Nase zeigen und sich endlich gerecht behandelt fühlen. Fährt Mensch durch die hügelige Landschaft, möchte er ein lockeres Liedchen singen wie zum Beispiel „Es grünt so Grün bretonisch Grün, jetzt hab ich´s“. Eine derartige satte Landschaft wie die nördliche und mittlere Bretagne mit alle Arten von Laubbäumen und Hecken habe ich zuletzt in der nördlichen Extremadura zur Grenze nach Galicia gesehen, aber selbst diese nordwest-iberische Region reicht nicht an die Grünpalette der Bretagne heran. Im Regen auf einer Autobahn durch eine von praller Vegetation beschenkte Landschaft zu fahren, ist niemals besonders beglückend, aber als Navigator wurden mir die 160 km zwischen Guingamp und Rennes nicht langweilig, zumal ich mir vorgenommen hatte, dem Schloss „Chateau des Portes“ einen Besuch abzustatten. Leider und da muss ich auf die erschreckend schlechte Qualität von Google Maps hinweisen, habe ich es auf dem kleinen Display meines smartphones gesucht und gefunden, wieder verloren und erst wieder gefunden, als wir schon einige Meilen daran vorbeigefahren waren. Um aber die Zeit zwischen unser morgendlichen Abfahrt und dem Einchecken im Hotel mitten in Rennes zu überbrücken, suchte ich nach weiteren Besonderheiten der bretonischen Geschichte und fand das megalithische Feld „Mégalithes de Lampouy“ bei Medreac. Mega ist, wie wir es inzwischen umgangssprachlich geschluckt haben, das Jugendwort für Groß und Besonders, Megalithisch kann zurecht mit Groß oder noch größer bezeichnet werden, weil diese Kultur, die ungefähr zwischen 4000 und 5000 v. Chr. entstand, dem Begriff „Größe“ eine fast überirdische Bedeutung verliehen hat. Lithisch ist auf Lithos zurückzuführen, das jeder Künstler* oder Kunstgeschichtler ohne Schwierigkeiten als Stein definiert, denn die Lithografie, der Steindruck, der mittels geschliffener Solnhofner Schieferplatten aufs Papier kam, hat spätestens seit Toulouse-Lautrec Einzug in den allgemeinen Kunstkanon gehalten.
Fünf Steinreihen sind in Lampouy in einem Waldstück zu finden. Allerdings regnete es so stark, dass wir mit nassen Füßen nur einige Reihen sehen konnten. Es war ein gewisser Théodore Danjou de La Garenne, der im 19. Jahrhundert die ersten Steine oder Menhire entdeckte und geschichtlich einordnete. Laut neueren Vermaßungen weisen die Felsbrocken eine Höhe von 5,4 bis 0,9 Meter auf. Das Kapitel Megalithisch umfasst in der Altertumsforschung nicht nur reichhaltigen Insiderstoff, sondern ist aus unserer heutigen Sicht nur mit Erstaunen zu verstehen. Die Funde megalithischer Monumente sind über ganz Europa verstreut und diese Tatsache erschwert natürlich auch die Zuordnung der ethnischen Gruppen, die sich in jener Zeit mit diesen Felsklötzen abgerackert haben. Skandinavien, britische Inseln, Bretagne, Nordspanien, Korsika und Sardinien, Süditalien und Malta sind die bedeutendsten Fundstätten der kultisch geordneten Steinreihen, -kreise oder Gebäude. In diesem Zusammenhang wird die Saga von Asterix, Obelix und Miracolix verständlicher, wenn glaubhaft wäre, dass ohne Superdoping kein einziger Stein auch nur einen Meter verrutscht worden wäre. Oder waren es vielleicht Riesen wie die „Wilden Kerle“?  1979 fanden Wissenschaftler in einem spektakulären Experiment heraus, dass ca. 200 Menschen ihre Muskeln aufs Äußerste strapazieren mussten, um einen 32 Tonnen Steinkoloss zu ziehen und in vertikaler Position auszutarieren. Manche Steine wiegen allerdings bis zu 100 Tonnen. Zum Vergleich: Der größte Elefant wog 12 Tonnen und ein Blauwal bringt es auf ungefähr 100 Tonnen, Lascha Talachadse, der stärkste Gewichtheber mit Weltrekord stößt 263 kg.
Abschließend tappern die Archäologen, Ethnologen oder Soziologen immer noch sehr viel im Nebel herum, weil die großen Fragen „Wer, Wie, Warum“ noch nicht endgültig geklärt sind.

Meine Vorliebe für Schlösser wurde an diesem Tag nicht erfüllt, weil die in Frage kommenden Bauwerke, entweder in privater Hand waren oder nicht zu finden waren.
Auf der N12 rutscht man fast bis in die Innenstadt von Rennes, allerdings verlässt einen in der verwinkelten Altstadt die Peilung, auch weil Einbahnstraßen, Sackgassen und Verbotsschilder jedem guten Navigator und vor allem jeder guten Autofahrerin für Verwirrung, Ärger und Hilflosigkeit bringen. Dafür sucht sich der schlauere Conducteur ein Parkhaus, welches in der Nähe der Unterkunft liegt und nicht von Tripadvisor oder anderen sich als Alleskenner touristischer Spitzfindigkeiten gerierenden Internetportalen als Abzocke betitelt werden.
Auf der Suche bin ich auch auf einAparthotel in direkter Nähe, Mauer an Mauer, zur großen Basilika St. Pierre gestoßen, welches auf dem Foto den Eindruck vermittelte, als habe ein Illustrator aus dem Disneyland diese mittelalterliche Fassade mit kreativer Leidenschaft ins Poesiealbum für Städtereisen gezeichnet. Dieses anrührende Bild hat mich in der Tat verführt, dort zu buchen, auch weil ich vielleicht im Geiste die Illustrationen Tomi Ungerers im Deutschen Liederbuch vor Augen hatte. Die Präsentation dieses in einem großen mittelalterlichen Gebäude eingegliederten Aparthotel war allerdings so verwirrend, auch verwirrend verführerisch, dass ich schließlich per Mail anfragen musste, welche Bilder mit dem jeweilig angebotenen Apartment in Verbindung gebracht werden könnten. Keine Antwort. Da wir aber weder in einem Kyriad-, Campanile- oder Formule-1-Hotel zu wohnen beabsichtigten, dachte ich mir, das wird schon ok sein, denn alle Fotos waren irgendwie ansprechend.
Das Parkhaus war mehr als 6 Minuten entfernt und die Gepäckstücke, die wir für die drei Tage brauchen würden, mussten über das sehr klobige Pflaster mühsam durch die Gassen geschleppt werden. Dieses Hotel gehörte einer Kette an, die allerdings mehr auf ein jüngeres Publikum fixiert war und so standen wir vor der Eingangstür und mussten via smartphone irgendeinen Angestellten* zu uns lotsen, um in die Unterkunft zu gelangen. Schließlich kam Madjib und als er die Pforten öffnete, standen wir mit entzückenden Staunen um mindestens 500 Jahre in eine Zeit der Minnesänger zurückversetzt.

Madjib ging voraus und nachdem wir den opulent bewachsenen und blühenden Innenhof hinter uns gelassen hatten und durch eine weitere Toreinfahrt geschritten waren, kletterten wir eine uralt Treppe empor, deren Hang zur Baufälligkeit zumindestens erahnbar war. Altes, schönes Holz, schon grün verfärbt und ohne jeglichen rechten Winkel. Eine Tür, relativ schief, eine weitere Tür, ziemlich robust, und schon waren wir in einem Raum voller Überraschungen. Bunt und im do-it-yourself-Verfahren restauriert erinnerte es mich an manche Bude meiner Studentenzeit und vor allem an die kleinen Butzen in der Altstadt von Heidelberg, wo einige meiner Freunde gewohnt hatten. Aber, das war nicht schlecht, alles, na ja, fast alles, was wir brauchten war da (leider kein Austernmesser) und über dem Sofa war eine Empore mit Leiter und Geländer installiert, auf der die Doppelmatratze auf einem Sockel lag mit einer Distanz von ca. 90 cm bis zu der darüber montierten Decke. Kühlschrank, Geschirr, 2 Plattenherd, Tisch, Dusche, WC, Waschmaschine, Fernseher, W-LAN – ja, was braucht der Reisende in diesen Zeiten mehr, oder? Ich, der ich immer wieder mit Knieproblemen und Rückenschmerzen zu tun habe, sah auf den ersten Blick, dass diese Erstbesteigung unter besten Voraussetzungen gut verlaufen würde, ob aber ein nächtliches Wasserlassen ohne Knochenbrüche oder Einrichtungsdemolation ablaufen würde, konnte ich ad hoc ausschließen. Also war der Entschluss einfach; auf die Couch, die auch tatsächlich – Ikea sei Dank – auszuziehen war. Aber kein Schlaraffia-Schlafvergnügen signalisierte. Das ist in diesen modernen Zeiten unwichtig, solange W-LAN funktioniert und der Kühlschrank immer noch kalte Temperaturen erzeugen kann. Was soll das Gejammere über zu harte Polster, wenn man über VPN die herrlichen Spiele der Franzosen, Dänen oder Schweizer bei der EM sehen konnte. So lebten wir uns im Cocooning zwischen Wandmalerei und einem ästhetischen Sammelsurium unterschiedlichster Geschmacksverirrungen ein.
Rennes, da waren wir also. Die unbekannte Stadt, die Stadt der Städte im bretonischen Großdepartement an der westlichsten Kante des französischen Vierecks inmitten dreier Meere: Nordsee, Atlantik und Mittelmeer.
Rennes beherbergt um die 200.000 Menschen und scheint hauptsächlich von den Erträgen bretonischer Äcker und dem Fischreichtum der Küstengefilde ihre Existenz auf höherem Level zu halten. Das wesentliche Geschehen für das Lebensgefühl und die Gelüste der Menschen spielt sich in der pittoresken Altstadt ab und auch wenn Regen und Sonne ein permanentes Versteckspiel aufführten, waren die zahlreichen Straßencafés und -restaurants immer bis auf den letzten Tisch besetzt (es gab Lokale, wo kaum jemand saß, aber da hätte ich auch nicht sitzen wollen). 12 große Austern und kein Austernmesser und die Methode, mit dem Dolch in der kleinen Öffnung herumzustochern, lehnte ich mit Rücksicht auf meine Pfoten dankend ab.

Neben der großen Kathedrale, den beiden sehr geräumigen Markthallen am Marché des Lices, dem bretonischen Parlamentsgebäude, den Museen Jeu de Paume und Beaux-Arts, dem Gerichtshof und dem Jardin Thabor, die in allen Reiseführern ausführlich beschrieben werden, möchte ich ein wenig über das Sein am Wochenende in einer sehr großen Departmentshauptstadt berichten. Im zweiten Weltkrieg wurde Rennes bei weitem nicht so zerstört wie andere Städte, über die ich schon in einem der vorigen Blogs geschrieben habe. Die Stadt liegt im Osten der Bretagne im Department Île et Vilaine an der Grenze zur Normandie und wird in der Rangliste der französischen Großstädte als 10. größte Stadt Frankreichs genannt. Ihre zentrale geografische Lage zieht die Bewohner des von Ackerbau und Viehzucht geprägten Umlandes meiner Meinung nach in einem Radius von ca. 50-70 km als Kultur- und Einkaufsmetropole an. Bei Sonnenwetter, wie es teilweise an diesem Samstag zu erleben war, begegnet sich toute le monde in der Innenstadt und erzeugt eine Lebendigkeit, die zwar nicht an St. Germain de Pres heranreicht, aber gegenüber deutschen Provinzstädten ähnlicher Größenordnung überraschend quirlig erscheint. Samstags Morgen ist Markt und dieser Markt hat es in sich. Da es teilweise in Strömen regnete, habe ich keine Fotos geschossen, im übrigen habe ich Märkte überall in Europa zwischen Palermo und Bilbao zur Genüge fotografiert, um einen weiteren hinzuzufügen. Das erledigen die vielen Knipser mit ihren Plattkameras mit Telefonierfunktion schon für alle, die es sich nicht vorstellen können, was so ein großer Markt für eine Ausstrahlung hat. Das Raummaß und dessen visueller Eindruck eine der beiden gleich großen Hallen schien mir wichtiger zu sein und so bat ich einen der Straßenfeger nach der Beendigung gegen 14 Uhr, kurz im Innern ein paar Aufnahmen machen zu können. Die Hallen gehören beileibe nicht zu den schönsten Bauwerken dieser Art in Frankreich, aber die Atmosphäre in und um die beiden flachen gebäude ist einzigartig. Die Behauptung einiger Internettouristen steht im Raum, dass der Marché des Lices der zweitgrößte Markt in Frankreich sei. Das kann ich nicht beurteilen, aber allein der Markt in Arles, der fast die gesamte Stadt umschließt scheint mir ebenso groß zu sein.

Für meine Fotos brauche ich Licht und auch wenn im Nebel oder Regen, bei Schnee oder Gewitter tolle Fotos gelingen können, benötige ich für meine Arbeit immer Licht. Herumexperimentieren kann ich immer und mit Blende und Zeit ein ästhetisches Spielchen betreiben, aber die Voraussetzungen für derartige fotografische Kunstschüsse verlangen meistens Zeit und Raum und oft muss man* früh aufstehen oder kurz vor Sonnenuntergang auf die Pirsch gehen.
Oft sitze ich sehr lange in einem Straßenbistro und suche mit dem größeren Objektiven bis zu 300 mm mich anspringende Details an Hauswänden oder den Auslagen der Schaufenster zu finden, die ich in meine großen Bilder integrieren kann. Bei guter Verpflegung, die immer eine gute Auswahl voraussetzt, kann ich es schon mal 2-3 Stunden im richtigen Standort zur richtigen Zeit aushalten.
Der Samstag bot ein von Menschen dicht an dicht fluktuierendes Bild und teilweise schienen viele die pandemischen Vorsichtsmaßnahmen vollkommen vergessen zu haben. Das Austernmesser habe ich noch kaufen können und bei der Rückkehr in unsere Herberge habe ich erst einmal 7 auf einen Streich hintereinander in meine Magenhöhle gleiten lassen. Ein Hochgenuss und eine Erinnerung an die Zeit zwischen Lannion und St. Brieux.

Am Montag Morgen regnete es Cats and Dogs, wenn nicht sogar Löwen und Elefanten, auf jeden Fall waren wir im nu durchnässt. (Ich schaue nach draußen und kann nur sagen, das Rheinland wird von der Sintflut heimgesucht und wenn heute nicht das Wasser bis tief ins Erdreich dringt, haben die Klimawandelleugner mit irgendeinen faulen Trick die Zwischenerde versiegelt). Nach einer Stunde hatten wir wieder alles verpackt und verließen Rennes, um die letzte Station unserer Reise in der Champagne zu beehren: Reims

Heute ist der 14. Juli und ich sage, dass es ein besonderer Feiertag ist, weil die Umwelt zerstörenden Kreuzfahrtschiffe nicht mehr durch den Giudecca-Kanal fahren dürfen. Das ist für alle Menschen, die Venedig und unseren Planeten lieben, eine der schönsten Nachrichten in dieser trostosen Zeit. Die Tour de France strampelt sich in die entscheidende Phase, indem die Drahtesel-Carbonrahmen-Athleten hoch auf die Pyrenäen klettern. Den Rest unserer Reise folgt.

Wenn das * erscheint, versuche ich das Gendern zu umgehen, weil des den visuelen Fluss der Sprache zerstört

Wolfgang Neisser, 14. Juli 2021