Hin und wieder pflegen wir Reisen zu unternehmen, die allein unseren privaten Bedürfnissen oder Interessen geschuldet sind, Reisen, deren Programm einzig und allein unserer eigenen Freude und unserer eigenen Neugier dienen. Allerdings können die erlebten Inhalte oder Begebenheiten diese Reisen auch für andere Menschen interessant werden und vielleicht dazu führen, dass sie diese Destinationen ebenfalls ansteuern.
Wir sind im ersten Dezember-Wochenende nach Berlin gefahren, um an einer privaten größeren Feier teilzunehmen und haben den Anlass genutzt, ohne Druck und Terminhetze unser eigenes „Ding“ zu machen. Und im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass wir einige Aspekte dieses Besuches anderen als Empfehlung weitergeben möchten.
Allerdings sei vorab noch einmal vor den Unwägbarkeiten der DB gewarnt, die kommunikativ und auch in der jeweiligen örtlichen Navigation der einzelnen Bahnhöfe offensichtlich immer noch vor dem Mauerfall hängengeblieben ist, denn allein die Hinfahrt erwies sich als perfekte Katastrophe einer unstrukturierten Organisationspolitik dieses Unternehmens. Weil der ICE zum einem zu spät eingesetzt wurde und zum anderen in Hamm die Weiterfahrt verweigerte und den Passagieren des voll besetzten Zuges in einen von Dortmund kommenden, ebenfalls voll besetzten IC´s zumutete, die Reise teilweise von Hamm bis Berlin stehend hinter sich zu bringen. Reservierungen galten nichts mehr und das Informationspersonal der DB schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Wir sind zwar müde und derangiert in Berlin angekommen, aber so eine Reise im Stil indischer Bahnerlebnisse, muss man sich nicht mehr antun.
Für mich ist Berlin immer eine Reise in die eigene Vergangenheit und die Jahre, die ich vor 40 Jahren dort verbracht habe. Die Zeit in den 70ern zwischen SO36, Lübars und Nikolasee hat sich in jeder Hinsicht nachhaltig in meine DNA eingraviert.
Die Großstadt Berlin, insbesondere das ehemalige West-Berlin ist ein offenes Buch für mich, auch wenn sich die Gesamtarchitektur der Stadt völlig verändert hat. Mit der Ernennung zur Hauptstadt wurde die Stadt eine Metropole und als Metropole erklomm sie den Gipfel des Größenwahns. Allerdings nicht überall. Berlin lebt vom Tourismus und wenn man sich die Zahlen anschaut, wäre die Stadt, die ohnehin vom Bund großzügig gesponsert wird, ohne die weltweite Anziehungskraft am Rande des Existenzminimums. Aber Berlin ist nicht Potsdamer Platz, die gentrifizierten Stadtteile Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Kreuzberg oder aktuell Neukölln. Berlin hat eine großartige Geschichte jenseits jeden Hypes.
Die Topografie der Straßen und Boulevards ist geblieben, ebenso das gesamte öffentliche Verkehrsnetz, welches seit 1989 durch die Wiedervereinigung der beiden Stadtgebiete immer noch sehr überschaubar ist, zumal der Ring der S-Bahn dadurch einen besonderen Stellenwert für ein schnelles Erreichen jeden Zieles gewonnen hat.
Wir haben uns im Westend, unmittelbar am großen Klinikum eingemietet und von dort aus die Stadt erkundet. Alles unter der Ägide, keinem bestimmten Plan zu folgen, sich keinem Termindruck auszusetzen. Am ersten Abend haben wir in der Nähe des Zoologischen Gartens in einem neu erbauten Komplex mit vielen Kinosälen die bemerkenswerte sarkastische und turbulente Komödie „Madame“ der in Deutschland wenig bekannten Romanautorin, Filmemacherin und Theaterregisseurin Amanda Sthers angeschaut, der uns in allen Belangen überzeugt und erfreut hat. Diesen Film kann ich weiterempfehlen und die großartigen Schauspieler Harvey Keitel, Toni Collette und Rossy de Palma haben mit ihrer Kunst dem Geschehen im Film einen besonderen Glanz verliehen.
Am nächsten Tag habe ich Eva Charlottenburg gezeigt, wie ich es in meiner Berlinzeit erlebt habe und der Gang vom Westend bis zum Zoologischen Garten am Schloss Charlottenburg vorbei, in die Schlossstraße, mit Besuch der altehrwürdigen Kastanie, über die Kantstraße mit Abstechern in Nebenstraßen wie Seesenheimerstr., Pestalozzistr., Schillerstr. oder Knesebeckstraße mit vielen erquicklichen Geschäftsbesuchen war für uns ein ganz besonderes Vergnügen einer Stadterkundung. Erwähnenswert ist das Bröhanmuseum (Berliner Landesmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus) gegenüber dem Charlottenburger Schloss und gegenüber dem Berggrien-Museum gelegen als Teil des Schlosses und ehemalige Infanteriekaserne mit den ausgezeichneten Ausstellungen der expressiven Seccesionisten Hagemeister und Leistikov – Landschaftsmalerei – und der sehr gut kuratierten Schau: Sowjetisches Grafikdesign der 192034 und 1930er Jahre.
„Ich hatte bemerkt, dass in der Epoche um 1900 ein kaum bekannter Schatz lag, der nur darauf zu warten schien, gehoben zu werden.“ Karl H. Bröhan
Die Fete am Abend in der Nähe des Bayrischen Platzes war wie immer das Zusammenkommen besonderer Menschen mit kulturellem, philosophischen oder wissenschaftlichen Background und die einmalige Gelegenheit, mit all diesen Menschen zwanglos zu feiern und der gemeinsamen Kommunikation den größt möglichen Raum zu bieten.
Für mich war dann die Retrospektive Jeanne Mammen im Berlinischen Museum das Highlight meiner Museumsbesuche. Allein das Gebäude an der „Alten Jakobstraße“ neben dem Jüdischen Museum ist eine Augenweide. Aber die Werke der Künstlerin Mammen (1890 -1976), deren erstaunliche Bandbreite ihres kreativen Lebensweges im Untergeschoß gezeigt wurde, war für mich als Bewunderer der „Neuen Sachlichkeit“ und aller anderen kulturellen Ereignisse, Veröffentlichungen und Präsentationen zwischen 1918 und 1933 ein Hochgenuss. Allein die zeichnerische Periode war Bild für Bild begeisternd. Dabei ist Jeanne Mammen auch vielen Kennern der Szene in der Weimarer Republik und der Nachkriegszeit eine Unbekannte geblieben. Mit dieser Ausstellung kann man die Künstlerin wieder in einem Atemzug mit Dix, Grosz, Raederscheidt, Schlichter, Kanoldt, Nussbaum und Radziwill nennen. Nach dem Krieg ging die Künstlerin dazu über, abstrakt zu malen und schuf ein bemerkenswertes Oeuvre aus Collagen und Ölbildern. Dabei orientierte sie sich zu Beginn, auch wegen des Bildes „Guernica“, am Stil von Pablo Picasso.
Persönlich wurde die Begegnung mit einem alten Freund, den ich über 40 Jahre nicht mehr gesehen hatte, und unsere gemeinsames Erinnern an Zeiten, die wahrscheinlich in dieser Form nie mehr in dieser Intensität, Einzigartigkeit und Radikalität wiederkommen werden, zu einem besonderen Ereignis. Diese Jahre haben alles danach entscheidend geprägt, und wir beide durchwanderten die wunderbare Retrospektive gemeinsam erlebter Kreuzberger Nächte und Charlottenburger Kreuzzüge, die immer auf einem schmalen Grat zwischen überschwänglicher Euphorie und tiefer Melancholie tänzelten.
Es war eine Reise durch inzwischen längst vergessene Etablissements und Behausungsformen eines turbulenten kulturellen Aufbruchs in ganz neue Zeitdimensionen, der als Kosmos der verrückten Spontanitäten in einem Dschungel täglicher Überraschungen unser Leben entscheidend beeinflusst hat.
Ein herzliches Dankeschön gilt auch der Familie M. und W.B., langjährigen Mitreisenden und Freunden, die uns eingeladen haben, im Süden der Stadt, unweit der „Krummen Lanke“ ein paar kommunikative Stunden zu verbringen und in deren Räumlichkeiten wir uns sehr wohl gefühlt haben.
Die Seenplatte östlich parallel zum Strand des Wannsees verlaufend, insbesondere „Krumme Lanke“, „Schlachtensee“ und „Grunewaldsee“, mit den immergrünen Föhren und Kiefern auf märkischen Sand ist eine Besonderheit der Stadt, die jeden Besucher eine Einkehr ins Normale jenseits der flirrenden Lichter wie der brausenden Straßen der Großstadt ermöglichen.
W.N. im Dezember 2017