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Der Marathon des Schreckens

Das ist eine Geschichte, die tatsächlich geschehen ist, auch wenn es tatsächlich vorkommen soll, dass Menschen immer wieder morgens aufwachen und sich lebendig fühlen, gibt es Ereignisse, die einen fassungslos machen, weil sie weit über das Einzigartige hinaus gehen.Eine Geschichte, die so nie geschehen sollte, aber im Orbit der Kontingenztheorie immer geschehen kann. Mensch muss in diesem Fall zumindest einige Worte oder Sätze fallen lassen, auch wenn er tief in sich den Drang verspürt, es besser sein zu lassen, um diese Begebenheit so tief in seinem Erinnerungsspeicher zu deponieren, dass er mit Sicherheit der Illusion auf dem Leim geht, so etwas könne nie wieder zum ans Tageslicht geraten. Wie wir sehen werden, muss dieser Wunsch mit Fug und Recht als Selbstbetrug bezeichnet werden, weil das menschliche Gehirn Funktionen hat, die Mensch besser nicht kennen sollte.Beispielsweise sind Begriffe und Namen wie Montabaur, Bahnhof, ICE oder das Totalversagen der Vorstellungskraft in der Lage, sogleich die Büchse der Pandora zu öffnen und einen einmal erlebten Horror sofort wieder hervor zu triggern (neudeutsches Psychophänomen), der auch nach 72 Stunden als die ekelhafte Fresse eines Phantom der Deutschen Bundesbahn wieder auftaucht.

Denkmal Paul Riquet an der Avenue Paul Riquet

Es geht im Wesentlichen um das seit Jahren in allen Medien und einschlägigen Diskussionsrunden durchgehechelte Debakel einer bundesweit tätigen Institution für das Volkswohl, welches gerade in der Aktualität des Klimawandels als eine wichtige Stütze einer verunsicherten Gesellschaft angesehen werden muss, die sehnlichst darauf wartet, bezüglich ihrer Mobilität adäquate Lösungen zu finden. Wenn wir uns ehrlich machen, sollten wir alle medial verbreiteten Sensationen einfach übergehen und das, was uns als wichtig erscheint, in die Kategorie Nebensache zu schieben. Was nutzt uns der Staub aus einem sehr, sehr weit irgendwo im weiten All herumtaumelnden Asteroiden oder die Entdeckung einer kaum zu beschreibenden Erfindung oder Entdeckung einer Lasergeschwindigkeitsmessung, wenn ein Zug, der locker 300 km Geschwindigkeit erreichen kann, sich als lahmste aller lame Ducks entpuppt. Wir wussten schon seit Jahren, dass jeder Bundesbahnreisende sich einer ganz neuen Rechenmethode unterwerfen muss, wenn es darum geht, mit einem Schienenfahrzeug in der von einem Fahrplan zugesagten Zeit von A nach B zu gelangen. Schlimmer wird es allerdings, wenn aus Buchstabenchiffren genau zu definierende Begriffe oder Namen werden, denen man glauben kann, aber nich glauben sollte. Mensch will mit anderen Menschen über Schienenstränge von K wie Köln nach B wie Beziers fahren, in der Gewissheit, dass auf der 1200 km langen Strecke alles geschehen und aus dem Ruder laufen kann oder besser gesagt aus unerfindlichen Gründen der Stochastik Dinge geschehen, die sich kaum einer ausdenken kann und nach einem der schlimmsten Albträume in seinem Gehirn für Blut, Schweiß und Tränen sorgt.

Brücke über die Orb unterhalb des Kathedralenberges

Mensch ist bester Laune, verkürzt gesagt, „alles gut“ und begibt sich zu einer derexquisitesten Bahnhofskonstruktion Deutschlands mit seinen venezianisch osmanisch gestalteten  Stahlträgeröffnungen für ein- und ausfahrende Züge. Es ist ein schöner Morgen, in seiner Vorstellung tauchen schon Palmen und Zypressen, Pinien und Platanen auf. Vor seinem geistigen Auge sieht der den Pic de Canigou, die schwarzen Berge zwischen Minervois und Corbieres und die hoch auf einem schmalen Felsgrad thronende Fluchtburg der Katharer Peyrepertuis. Er sieht Straßencafés mit einladenden Bistrostühlen und schöne Menschen, die in sommerlicher Kleidung in der Spätherbstsonne über den Boulevard Paul Riquet flanieren.

Vor dem Wohnensemble im Chateau Sevignac le Haute

Einsteigen, die reservierten Plätze suchen, Scherze hin- und hertanzen lassen und vor Freude die Dopaminquellen in Fontänen verwandeln. Pfiff. Es geht los. Die Baggerseen bei Porz fliegen vorbei, der K-B-Adenauer Flugplatz nimmt neue Gäste auf und spuckt die Ignorierer des ökologischen Fußabdrucks für miles and more wieder aus. Siegburg verschwindet so schnell, dass Troisdorf wahrscheinlich gar nicht mehr zu sehen sein wird. Aber was geschieht da, der Zug drosselt gerade dort das Tempo, wo 250 Sachen normal sind. Der lange Wagenbandwurm schleicht mit gerade nmal 120 km/h in den Westerwald, als hätte ihn ein mechanischer Asthmaanfall heimgesucht. Es wird langsamer und langsamer, aber das meint der geübte DB-Kunde schon zu kennen und nimmt derartige leichte Veränderungen als normative Wahrnehmung aus der Überraschungskiste der Bahn in Kauf. Montabaur naht und der Zug hält in der neuen Retortenstadt der Digitalen Welt neben einer langen Wand verglaster Bürohäuser, die durch die unermüdlichen Anstrengungen des Start Up-Genies Ralf Domermuth wie aus dem Nichts aus dem Boden gestampft wurden. Mensch kennt Domermuth, war er nicht selbst am Aufstieg des umtriebigen Wällers beteiligt. Drei Jahre lebte Mensch in Montabaur und er hat keine guten Erinnerungen an diese von Arroganz durchtriebene Kleinstadt mit dem gelb getünchten Schloss, das auf den Hügel Mons Tabor steht und heute eine Fortbildungsstätte für neue und gefrässige Bankheuschrecken ist. Montabaur war für Mensch eine Zäsur, die zu einem Debakel gedieh. Die Verlockung des Geldes und das Beiseiteschieben mahnender Gedanken sind eine gefährliche Mischung, die sich selbst aus Hybris und Wirklichkeitsnegation zusammenmischen.
Der Zug stand in Montabaur und die Durchsage eines sich nicht irgendwie geschickt ausdrückenden Zugchefs sorgten kaum gesagt, für Unruhe und auch für erste Ängste. Hoffentlich fährt er bald weiter, hoffentlich erdreistet sich der Zug nicht einer längeren Verspätung. Es kam noch schlimmer, zum einem sagte die Stimme, dass ein größerer Schaden behoben werden müsse und verbesserte sich mehrere Minuten später mit der Aussage, dass der Zug nicht weiterfahren könne und alle aussteigen müssten. Die knarige Stimme setzte der flirrenden Unruhe unter den Fahrgästen mit der Sperrung der gesamten Bahnstrecke zwischen dem Halteort und Frankfurt die Krone auf. Alle standen auf dem Bahnsteig herum und warteten in einer Stimmung des traumatischen Nichtglaubenwollens auf das, was im Prinzip zu erwarten gewesen wäre, aber nicht geschah. Informationen und Erklärungen, wie es für die Menschen weitergehen könne, um ihre Ziele zu erreichen, wäre das Mindeste gewesen. Nichts. Keine Lautsprecher rettete die Menschen aus dieser sprachlosen Verdammnis, um ihnen wenigstens einen Funken Hoffnung für den weiteren Ablauf des Tages zu geben. In meiner Erinnerung wechselten die irrsten Spekulationen, Berechnungen, Befürchtungen, Zornesgesänge von einem zum anderen und schwirrten wie die berühmte Karikatur „Das Gerücht“ durch die Bahnsteige des ästhetisch völlig verfehlten Bahnhofsbaus und blähten sich von Minute zu Minute zu einer Blase des Schreckens auf. Mein Flug nach LA, mein Verbindungszug nach Heilbronn, unser Urlaub im Pfälzer Wald oder wie bei uns die erhofft erquicklichen Petanquetage bei Beziers. Wir standen zwei oder drei Stunden in Montabaur und wurden mit keiner Silbe von den Verantwortlichen der Bahn irgendwie angesprochen oder informiert, es war auch kein einziger Bahnbediensteter zu sehen, der die rund 200+ herumirrenden oder verschreckt herumstehenden Fahrgäste über die Situation aufzuklären und wenigstens mit tragfähigen Vorschlägen zu beruhigen. Irgendwann, nachdem durch eine der wenigen Lautsprecheranlagen vermittelte, dass der Zug bald abgeschleppt werden würde, bewegte sich das Gefährt rückwärts auf irgendein Abstellgleis, das aber für die Wartenden nicht sichtbar war.
Auf der elektronischen Anzeige klapperten die Zahlen und es erschien die Schrift 12:38 Uhr nach Frankfurt. Diese Aussage wurde aber sehr schnell wieder zurückgenommen und es erschien 14:38. Für die Herren der Boulegemeinschaft „Drüje Schwämm von 1808“ bedeutete das, keinen einzigen Anschlusszug zu erreichen, der sie einigermaßen zeitlich nach Beziers bringen würde. Alle wischten und tippten auf ihren smartphones herum, in der Hoffnung auf etwas zu stoßen, was ihnen Erleichterung der Hoffnung bringen würde. Nach einer Weile schien keiner mehr zu wissen, ob und wie und wann eine Ankunft irgendwie und irgendwo möglich sein würde. Der Pointe de la Knack war der Ort Montabaur, der wie eine Mausefalle die Züge weder nach vorne, noch rückwärts ankommen oder abfahren ließ, weil diese Schnelltrasse zwischen Köln und Frankfurt keine Vorsehung getroffen hatte, auf einem dritten Gleis Ersatzzüge in den Bahnhof manövrieren zu lassen, ohne dass der normal verlaufende Schienenverkehr gestört werden würde.
Ein Zug, ein Zug, am Horizont erscheint der weiße Bug eines ICE. Er fährt ein, hält, wenige steigen aus, aber durch die Fenster kann jeder sehen, dass dieser Zug  entsprechend überfüllt ist und die Aussicht auf einen Sitzplatz wie eine Seifenblase zerplatzt. Ich zwänge mich in ein Abteil und muss während des Suchganges durch die Wagons feststellen, dass nichts zu machen ist. Die Sitzplatzbindung gibt es nicht mehr und in einem derartigen Zug ist sich jeder selbst der nächste. Aber ich täuschte mich, denn zwei jüngere Menschen, eine junge Frau und ein Pilot, wie es sich herausstellt, überlassen mir und Roland die Plätze, auch wer es nicht glauben mag, die Höflichkeit zwischen Alter und Jungsein funktioniert eben doch manchmal. Das Ziel Frankfurt Flughafen ist schnell erreicht und jetzt geht es darum, Mannheim so zeitnah wie möglich zu erreichen. In Mannheim werden die Karten neu gemischt, denn es hatte sich herausgestellt, dass von Mannheim ein TGV über Straßburg, Mulhouse, Belfort, Besancon, Lyon, Montpellier nach Beziers kommen würde. Ein einziger Zug für das einzige Ziel, was anzusteuern ist, ein Zug, der nur mit einer Umsteigeaktion in Lyon auf dem gleichen Gleis diese Reise noch retten kann, auch wenn der TGV irgendwann zwischen 23 Uhr und Mitternacht im Bahnhof Beziers ankommen wird. Das reicht, da kommen wir weiter, denn Taxis werden sich das Geschäft der noch fehelnden ca. 30 km nicht entgehen lassen. Das Mietwagenproblem verdünnisierte sich, wurde kleiner und kleiner und schließlich mussten alle einsehen, dass Dimitri F. nicht mehr bereit war, seinen schon bezahlten Job zu Ende zu bringen.

Salon im Wohnensemble

Auch dieser Zug, wie sollte es anders sein, war überfüllt und die Chance, einen bequemen Sitzplatz zu ergattern, war gleich Null und auch wenn ich Glück gehabt hätte, würde ich mich nicht in irgendeine freie Ecke mandeln oder quetschen. Zero. Niente. Pete und ich, anfangs befand sich noch Walter in unserer kleinen Prozession mit viel Gepäck, landeten im Speisewagen oder im Bistro, wie diese unsäglichen Fütterungs- und Durststillungsbuden heißen und griffen uns gleich die drei noch freien Hocker, die man eigentlich nicht so nennen konnte, sondern als 25 cm breite Sitzpolster oder Gesäßbolzen, die auf festgeschraubten Aluminiumstelen befestigt sind, eher wie Marterwerkzeuge ausssahen. Man sitzt und man sitzt wiederum nicht, weil der Druck auf die beiden Gesäßmuskeln so stark ist, dass man ständig von einer Backe zur anderen rutscht und deutlich bemerken muss, wie die Hodenbällchen allmählich platt werden. Aber in dieser Situation eines zur Sardinenbüchse mutierten Beförderungsvehikels war es opportun, sitzen zu bleiben und das Terrain zu verteidigen, gleichgültig wie der vibrierende Untergrund des Ganges und die fiesen kleinen Schläge bei den Weichen das Sitzfleisch malträtierten. Wir unterhielten uns, versuchten die Zeit so angenehm wie möglich zu verkürzen oder überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Letzteres wird aber immer wieder durch vorbeieilende Passagiere mehr als notwendig gestört. Hin und her und mal kriegte man einen Fußtritt ab und ein anderes Mal jaulten die Zehen auf, weil Schuh auf Schuh vor allem für den zu unterstliegenden immer mit einem stechenden Schmerz einhergingen. Das einzige, was jetzt wichtig war, rechtzeitig in Mannheim Hbf anzukommen, zu einem Ticket- oder Informationsschalter zu flitzen und und die Fahrkarten für die französische RNCF umschreiben zu lassen, um eventuell anfallende Mehrkosten, die durchaus den gesamten Fahrpreis beträfen, zu vermeiden.
Wie das so ist in einem deutschen Fahrkartenschalterbüro versammelten sich dort viele Reisende, die durch die Fahrpläne mit den dazugehörigen Kosten oder mit An- und Abfahrtzeiten wie Umsteigemöglichkeiten nicht zurechtgekommen waren, weil das voluminöse Navigationssystem der Bahnen jeden Menschen überfordert, auch wenn er meint, sich bestens auszukennen. Um Staus vor den Schaltern zu vermeiden, konnte Mensch aus einen kleinen Apparat Losnummern ziehen, um den Aufforderungen der Bahnbediensteten Folge zu leisten und seine Fragen los zu werden. Es war obligatorisch vorgeschrieben, so lange zu warten, bis man aufgerufen wurde. Nun zogen wir eine Zahl, die uns eindeutig zu Verstehen gab, dass wir mindestens dreißig Minuten hätten warten müssen. Auch beim Besten Willen, Ordnung zu bewahren und den Regeln artig zu folgen, riss mir der Geduldsfaden und ich eilte zu dem einzigen freien Schalter und konfrontierte den Mann hinter der Scheibe mit meinen vorher gut überlegten Bittstellungssermon. Er schüttelte den Kopf, verwies auf die einzuhaltende Reihenfolge und wollte mich umgehend wegschicken. Da griff ich zum Mittel der absoluten Dringlichkeit und einer Argumentation, die mehr mit Leben und Tod, Leid und Frustration zu tun hatte, als mit meinem eigentlichen Begehr. Ich merkte wie er weicher wurde und als er dann unsere Tickets sehen wollte, war der Bann gebrochen. Auch wenn er gleich darauf anmerkte, dass dieser Vorgang überhaupt nicht zum Konzept der Warteschlangenbedienung passen würde, suchte er die Züge aus seinem Computer heraus, nahm sich jeden Fahrschein vor und schrieb in Handschrift die erlösenden Sätze auf die Papiere und versah das Ganze mit einem Stempel. Dann rief er die Zugleitstelle an und ließ sich meines Erachtens mit den zuständigen Beamten für unseren Zug verbinden. Danach entließ er uns in der Gewissheit, dass ab jetzt zumindest bis Lyon, wo wir umsteigen mussten, alles zu unserer Zufriedenheit ablaufen würde. Unser Dank war übeschwänglich.
Aufgepasst, keiner sollte sich in Sicherheit wiegen, bevor das Ziel erreicht war und alle erhobenen Hauptes den Zielbahnhof  verlassen konnten, egal wie spät, egal unter welchen Mobilitätsumständen oder mit welchen Zeitgenossen wir die nächsten Stunden verbringen würden.
Von Straßburg bis Lyon reihen sich Bahnhöfe an Bahnhöfe, aber die französische Bahnverwaltung erspart den Reisenden die kleinen Städte und hält nur an den wichtigen Knotenpunkten wie Mulhouse, Belfort. Besancon, Chalon-sur-Saone, um dann in die Metropole an der Rhone im allseits bekannten Gare Lyon Perrache, wo die wichtigen Umsteigemöglichkeiten in andere Himmelsrichtungen ermöglicht werden. Nach Grenoble, nach Clermont-Ferrand, Marseille und nach Perpignan. Wenn der deutsche Reisende sich irgendwann bewusst wird, dass ein TGV von Paris bis Marseille nur sechs Stunden braucht, werden ihm Tränen in die Augen steigen und manch einer wird angesichts der deutschen Misere das heulende Elend kriegen. Bei Lyon Perrache fällt mir wieder ein, dass ich 1967 auf einer Tramptour nach Süden in Lyon in eines der krachendsten Gewitter geraten bin, die ich bis dahin erlebt hatte. Ich verkroch mich unter Gemüsekisten, die neben einer Alimentation gelagert waren und blickte bangend zum Himmel, als Blitz und Blitz auf die Rhonestadt herunterzuckten. Um 5 morgens war es vorbei und ich schlurfte zum Bahnhof Perrache, um für die letzten Sous ein Croissant zu kaufen.
Als der Zug auf Lyon zurollte und allmählich die Motoren drosselte, schoben wir uns zu den Zugtüren, um so schnell wie möglich aussteigen zu können.
Der Zug hielt und nach einer gewissen Weile sammelte sich die Gruppe der Aufrechten auf dem Bahnsteig und da wir immer noch nicht genau wussten, welcher Anschlusszug für unsere Buchung gedacht war, entstand eine große Verwirrung, die sich über den gesamten Bahnhof auszubreiten schien. Falsch oder Fehlmeldungen sprangen von Mund zu Mund und irgendwie wurde es babylonisch. Ein Informationsbeamter war von Reisenden umringt und er versuchte hände- und worteringend, jeden Einzelnen zufrieden zu stellen. Auf meine Frage, welcher Zug auf welchem Bahnsteig nach Perpignan fahren würde, entgegnete er mir, ici et voi 3. Aber das stimmte nicht und ich muss zugeben, nicht den gesamten Satz verstanden zu haben, denn er meinte ici et voiture trois. Das „ture“ hatte er irgendwie verschluckt und ich hatte mein Ohr zu schnell dicht gemacht. Aber dann schickte er mich in die falsche Richtung, obwohl er genau wissen musste, dass die Richtung nicht zielführend war. Nach all den Strapazen signalisierte mein Körper, dass ich diese hoffentlich letzte Anstrengung mit zusammen gebissenen Zähnen hinnehmen musste, um rechtzeitig den Zug nach Beziers zu erreichen. Was ich nur halb mitbekommen habe, war, dass zwei Züge aneinandergekoppelt waren, wobei der eine Marseille als Zielbahnhof ansteuern würde, während der andere Richtung Perpignan fuhr. Die Abfertigungsbeamten auf dem Bahnsteig pfiffen und es würde nicht mehr lange dauern, bis die beiden Zügen abfahren würden. Eine junge Frau, die wahrscheinlich ebenso verwirrt wie ich war, rannte auch in die falsche Richtung und auf die Frage, ob es nach Perpignan gehen würde, nickte sie, gab unverständliche Laute in „südfranzöischen Hargot“ von sich und enterte einen Wagon. Ich hinterher. Wenn ich erklären müsste, wie ich mich fühlte und ich sage es jetzt sehr genau: Ich war fix und fertig, näher am Abnippeln als am Lebensfaden hängend. Keuchend und fluchend, prustend und japsend. Inzwischen hatte ich natürlich alle anderen aus den Augen verloren, war aber froh, im richtigen Zug zu sein. Angeschmiert. Mit letzter Anstrengung kroch ich durch die Gänge, der Koffer blieb an jedem zweiten Sitz hängen und was an Gepäck anfangs noch schwer zu tragen war, war eigentlich gar nicht mehr zu schleppen. Schleppen, sich weiter schleppen, immer weiter, egal, besser schleppen. Dann befand ich mich ich in einem Abteil, wo es nicht mehr weiterging, eine rotgepolsterte Wand zeigte mir eine der Grenzen auf, die kein Mensch vor seinen Augen sehen will. Drei flippige Jungs Anfang zwanzig schauten mich wie eine Erscheinung an und als ich dann noch fragte, ob sie auch nach Perpignan fahren wollten, schauen sie mich noch entgeisterter oder auch sehr belustigt an und entgegneten unter prustendem Lachen, dass dieser Zug nach Marseille unterwegs sei. Eine Welt brach für wenige Augenblicke zusammen und in meinem Kopf entstand ein Gedankenpotpourri der übelsten Sorte. Immer noch keuchend fragte ich sie, wo denn der Zug nach Perpignan in diesem Augenblick sein könne, prusteten sie wieder laut los und deuteten auf den Boden des Abteils, um mir dann unter Feixen klar zu machen, dass der andere Zug, den ich suchte, auch auf diesem Gleis südwärts flitzte. Ein Licht ging mir auf. Natürlich bis Valence oder Montelimar war das die gleiche Strecke. Dann kochte Wut hoch und ich versuchte die anderen zu erreichen, die ja auch irgendwo sein mussten. Erhard sagte, dass sie alle zufrieden und entspannt in dem richtigen Zug seien und dass ich einfach nur in Balance umsteigen müsse, hundert Meter zu laufen hätte, um dann bei ihnen anzukommen. Was zu viel ist, ist nicht nur zu viel, sondern der höchste Grad der Unverschämtheit, Bosheit und Erniedrigung. Ha Ha Balance, wie das passte. Balance, Valence, Balance, Valence, letzte Chance, Seance Kruzifix noch amol. Dann tauchte eine blondgelockte Schaffnerin auf, die sehr ansehnlich war, aber in meinem Zustand noch nicht einmal das kleinste Zucken an- oder erregte. Sie lächelt mich an (oder lachte sie mich aus) und bestätigte die nackte Wahrheit über aneinandergekoppelt TGV´s.

Google Maps aufgerufen, der blaue Punkt bewegte sich Richtung Süden und Valence war nicht mehr weit, zumindest schien der Punkt Geschwindigkeit aufzunehmen. Nachdem ich wieder einigermaßen zu Atem gekommen war, schnallte ich den Rucksack mühsam nach hinten, hängte mir die Fototasche um und packte den Teleskopgriff des Koffers.

Vorplatz Chateau de Sevignac le Haute

Raus, nix wie raus. Die Bremsen quietschten, ich riss die Tür auf, wäre um ein Haar auf den Bahnsteig geflogen, weil mein linkes Bein wieder wegknickte, raffte mich auf und rannte, ehrlicherweise ging sich eher so schnell wie möglich, riss die nächste Tür des nächsten Wagons auf, der zum Perpignanzug gehörte, landete im Speisewagen und ließ mich in einen gepolsterten Sessel fallen. Geschafft, unglaublich, ich war und hatte es geschafft, auf der letzten Rille, am Anschlag, jenseits von allem, aber erleichtert.

Blick auf die Montaigne Noir

 

Zwei Dosen Zero, allein im Abteil, außer zwei controleurs, die mich kurz anlachten, aber ansonsten ihren eigenen Gesprächsfluss weitersprudeln ließen. Zunächst besuchte mich Erhard, der große Lange mit dem verworrenen Haarschopf und meinte, warum ich mich nicht nicht zu ihnen setzen würde, Platz wäre genug. Ich schaute ihn entgeistert bis gehässig an und meinte nur, dass ich mich bis Beziers keinen Millimeter durch diesen Zug mehr bewegen würde. „Dann nimm ich schon mal deinen Koffer mit“. Mach nur, aber ich bleibe hier sitzen, rauschte ab. Nach einer Weile kam Klaus, fragte mich höflich und etwas beängstigt, es hätte sein können, dass ich ihn vielleicht doch beissend anfallen würde können, ob es mir gut ginge und ob er etwas für mich tun könne, aber ich war wirklich nicht in der Lage, Nettes, Erwartetes und Aufbauendes von mir zu geben, weil es in meinem eingeschränkten Wortschatz derartige Begriffe in diesem Augenblick nicht gab. So wartete ich bis zum Ziel und kroch so vorsichtig wie möglich aus dem Abteil durch die geöffnete Zugtür ins Freie und stellt überascht fest, wie warum es round mitnight noch war. 18 Grad. Alle andere kamen auch zusammen und nach kürzeren über hypothetischen und unsinnigen Lösungsversuchen, rief ich die Nummer des Taxiunternehmens an, dessen Telefonnummer an einem Schild prangte. Oui, oui, biensur, 20 ou trente minutes, nous serons la. A bien tot. Und so war es. Mit zwei Pkw-Taxis gelangten wir für 50 Euro in das Schloss unserer Träume, wobei ich diesbezüglich meine Stimme senke und mir jedes weitere Wort genau überlegen werde.

Alte Brücke über die Orb unterhalb der Stadt mit Sicht auf die Kathedrale St. Nazaire