Unter die größten Entdeckungen, auf die der menschliche Verstand in den neuesten Zeiten gefallen ist, gehört meiner Meinung nach wohl die Kunst, Bücher zu beurteilen, ohne sie gelesen zu haben.
Georg Friedrich Lichtenberg
Kulturelle Unterschiede führen in den meisten Fällen zu Stereotypen. Dafür gibt es drei bedeutende sozial- und kognitionspsychologische Gründe. Diese sind Ethnozentrismus, die konstruierte Wahrnehmung und die Kategorisierung. Diese legen den Grundstein für die Wahrnehmung von Unterschieden und können schließlich zur Bildung von Stereotypen führen. Hinzu kommt an dieser Stelle die Rolle der erziehenden Parteien (d.h. Familie, Freunde, Schule) sowie der Medien.
Stefanie Schliephorst: Vorteilhaft Vorurteile verurteilen: Die Überwindung von Stereotypen durch Gestaltpädagogik
„Mein Beton ist schöner als Stein“
Es kommt immer auf die Perspektive an, ob sich eine vorgefasste Meinung bewahrheitet und entsprechend erfüllt oder im Augenblick der direkten visuellen Konfrontation als negatives Erleben verstanden wird. Viele Reisende, die zum ersten Mal in eine ihnen noch unbekannte Stadt oder Region kommen, haben schon vorher durch gezielte Informationsrecherche ein bestimmtes Bild in ihren Gedanken, weil sie sich durch Filme, Reiseberichte oder Fotografien vorkonditioniert haben, aber kein noch so exzellenter Film und keine noch so ansprechende Fotografie wird dem Eindruck der ersten unmittelbaren Begegnung gerecht werden. Es ist durchaus möglich, das alles, was man neu sieht und in mehrdimensionaler Form wahrnimmt, nahezu deckungsgleich mit seinen Erwartungen ist, es ist aber ebenso möglich, dass sich sofort Enttäuschung oder Abwehrmechanismen einstellen, die eine so gravierende Prägung hinterlassen, dass sie auch im Laufe der kommenden Zeit nicht mehr zu korrigieren ist.
Mit diesem Essay möchte ich eine Lanze brechen, eine Lanze für Städte wie Lens in der Picardie, Ludwigshafen am Rhein, Toulon am Mittelmeer oder Le Havre an der Seinemündung. Oft genug sind sie Opfer von Vorurteilen, negativen Beschreibungen und Fehleinschätzungen geworden, was dem jeweilgen Gesamteindruck nicht gerecht wird.
Am Beispiel Le Havre möchte ich verdeutlichen, dass alle Attribute innnerhalb der Ästhetik wie jeder anderen Beurteilung zwischen den Spannungsbogen schön und häßlich, bedeutend und zweitranging, erwähnenwert und nichtig letztlich von vielen Menschen nur aus einem individuellen Geschmack oder einer herablassenden Fremdvorstellung heraus bewertet werden, die aus der Ablehnung auch bei genauerer Betrachtung wie ein Ausdruck einer psychischen Blokade zu bewerten sind, deren Verstocktheit und Verurteilung oft nicht mehr zu durchbrechen sind. Umso wichtiger ist es, dass gegen alle Widerstände mit einer phänomenologischen Analyse, die auf präziser Recherche beruht, das Gegenteil zu beweisen. So kann aus dem vermeintlich als häßliches Entlein eingestuften Wesen mit einer angemessenen und realitätsnahen Bewertung ein bunter Haubentaucher werden.
Als ich das erst Mal in Südwestengland Stonehedge besuchte und schon 10 Kilometer vor dem prähistorischen „Denkmal“ dachte, dass man die Steine endlich sehen müsse, war ich mehr als enttäuscht, als ich sah, wie klein die Steine in Wirklichkeit sind und dass alles von einem Labyrinth zuschauergerechter Umzäunung umgeben war, um die Massen ohne Drängeln und Warteschlangen zu dem Monument zu geleiten. In meinem Kopf sah ich die Bilder, die ich in unterschiedlichen Büchern über Stonehendge gesehen hatte und war der festen Überzeugung, dass diese Steine riesengroß sein müssten. Auf den Fotos reichten die Ausmaße der einzelnen Steine bis nahe zum äußeren Rand der Fotografien und vermittelten mit entsprechenden Textaussagen eine Illusion wahrhafter Größe. Die Wirklichkeit und die vorherige Meinungsbildung aus zweiter Hand können einen Unterschied wie Feuer und Wasser ergeben.
Ich habe in diesem Zusammenhang den Vergleich, der sich auf die neue Wanderlust der Deutschen bezieht. Seit es „en vogue“ ist, wieder durch die Wälder zu stapfen und nach topografisch genau gesetzten Wanderzeichen größere Waldgebiete zu durchschreiten, laufen viele über den Rothaarsteig oder den Rheinsteig, durch die Eifel und den Pfälzerwald oder durchqueren gar die Alpen zu Fuß. Der amateurhafte Wanderer läuft mit digitalen Hilsmitteln wie Ortungsprogrammen auf smartphones oder – immer seltener – nach Wanderkarten. Die meisten orientieren sich an den Wanderzeichen, die von regionalen Vereinen gut sichtbar so angebracht wurden, dass ein Verlaufen fast unmöglich erscheint. So geht es von einem Zeichen zum anderen auf gut ausgebauten Wanderwegen, auf denen man nicht fürchten muss, über Felsen zu stolpern, sich die Beine in unerwartet auftauchenden Löchern zu verknacksen und wenn es steinig wird oder dicke Wurzeln den Weg kreuzen, wird vorher darauf hingewiesen. Als ich im Sauerland und im Ahrtal wohnte, bin ich sehr oft durch die nahe gelegenen Wälder gestreift und habe mich an der Stille und Einsamkeit des Waldes erfreut. Kennengelernt habe ich aber die Wälder in ihrer Vielfalt erst richtig, als ich abseits der vorgefertigten Wege einfach mitten in den Wald lief, Beeren und Pilze sammelte und Pflanzen wie Blumen fand, die ich nach Plan oder Ortungsangabe niemals gefunden hätte. Da muss man auf jeden Tritt achten, um junge Pflanzen nicht zu zertrampeln und sich bücken, wenn Äste zu tief hängen. Jeder, der will, kann auch Bäume umarmen oder andere Rituale vollführen, aber für mich bedeutet derartiger Firlefanz nur ein Abgleiten in eine Individualitätsduselei. Der Respekt vor den Bäumen und Pflanzen allein genügt, um diesen besonderen Raum mit Zuneigung und auch Ehrfurcht zu begegnen. Es ist das Abseits, das ich als Pendant des dem Menschen Oktroyierten bezeichne, um neue Sichtweisen des Erkennens zu lernen. Mit scheint es ein Weg zu sein, sich und seine unmittelbare Umgebung mit Achtsamkeit zu begegnen und zu verstehen.
Da wir das große Glück hatten, oberhalb der Stadt am rechten Seineufer in der Hügelkette, die paralell zum Fluß emporragt, eine kleine Wohnung zu finden, haben wir 2020 zum ersten Mal einen Monat in Le Havre verbracht. Von unserem Balkon hatten wir einen weiten Blick über die Stadt vom Pont Normandie im Süden bis zur Anlegestelle der großen Kreuzfahrtschiffe am Pier des seeseitigen Bassins im Norden. Vor uns lagen die gesamten Docks der Hafenbewirtschaftung, das Herzstück der Stadt mit dem Rathaus und der in den Himmel ragende Turm der Kathedrale St. Joseph, die teilweise durch Bäume verdeckt war. Aus unserer Perspektive lag der in Stein und Beton umgesetzte Masterplan des Wiederaufbaus durch den Architekten und Stadtplaners Gustave Perret wie auf einem Silbertablet serviert. Die meisten Reisenden, die europäische Städte besucht haben, werden auch in den letzten Jahren in Rotterdam gewesen sein, jener Stadt, die noch in 70er und 80er Jahren als unwirtliche Hafenmetropole galt und deshalb gemieden wurde. Mit meinen Eltern habe ich 1963 14 Tage im Vorort Schiedam verbracht und kann nur aus der Erinnerung bestätigen, dass die Innenstadt an der Flussmündung als no go area galt. Wir hielten uns mehr in Hoek van Holland zum Baden auf, als dass wir in Rotterdams City herumgelaufen wären. Heute ist Rotterdam eines der Hotspots europäischer Hafenstädte, das sich durch einen gigantischen Architekturplan vor allem am linken Ufer der Maas, aber auch in der Innenstadt selbst in eine Metropole ersten Ranges entwickelt hat. Die Bauten von Norman Foster, dem Architekturbüro KCAP, Rem Kohlhaas oder Renzo Piano verleihen der Stadt einen außergewöhnlichen Platz in der Riege der wiederaufgebauten Hafenstädte nach dem 2. Weltkrieg. Denn seit 1940 wurde die Stadt fast planmäßig von deutschen und aliierten Bombern dem Erdboden gleich gemacht. Nachdem nach Kriegsende lange nichts geschah, um die Stadt wieder neu zu gestalten, erfolgte zum Ende des letzten Jahrtausends ein Bauboom der einesgleich sucht. Man sagte, dass sich Rotterdam immer wieder neu erfunden hat.
Le Havre gehörte auch zu den Städten, deren gesamte Fläche besonders die Stadtviertel längst der Seine durch Fliegerbomben total rasiert wurde und nur noch als Trümmerfeld am Boden lag. es muss aber auch erwähnt werden, dass die herrschaftlichen Villen der Werftbesitzer und Handelshäuser an den Hängen weitgehend verschont worden sind. Zufall oder Kalkül, das kann sich jeder selbst aussuchen.
Wie ein Vorurteil entstehen kann
Einmal im Leben nach Paris. Komm Schatz, das gönnen wir uns jetzt und wir gönnen uns ja sonst nie was. Die Zugfahrkarten für den Thalys kosteten nur 30 Euro, ein Superschnäppchen dachte er und rieb sich die Hände. Jetzt nur noch ein Hotel finden. Schließlich buchte er eine kleine Pension in der Nähe des Place Clichy für 70 Euro ohne Dusche und WC auf dem Gang. Als sie am Nordbahnhof ankamen, sagte er, komm, jetzt zeig ich dir Paris. Sie nahmen die Metro und fuhren zum Boulevard St. Michel. Es war drückend heiß und sein Durst wurde immer größer. Schau, da ist ein Platz in dem Straßencafé frei geworden, setzen wir uns hin. Er bestellte ein großes Bier und einen Kaffee für die Gemahlin. Als die Rechnung kam, kriegte er beinahe einen Schlaganfall, 16 Euro für das Bier und 10 für den Kaffee. Er stritt sich mit dem Kellner, der ihn aber schnell links liegen ließ. Die Luft wurde immer stickiger und das Gehupe der Autos und die aus allen Auspuffrohren quellende Stinkerei ging ihm gewaltig auf die Nerven. Er war bedient. Diese Preise. Komm, dann gehen wir zum Eiffelturm, das musst du gesehen haben und das kann so teuer nicht sein. Ich kenne zwar nur Fotografien, aber das ist ein wahres Weltwunder. Am Eiffelturm fragte er nach einem Billet und als er hörte, dass die biligste Tour nach oben 40 Euro kostete, schwollen seine Halsschlagadern wieder mächtig an und er dreht sich auf den Absätzen um, packte seine Frau bei der Hand und dampfte davon. Gut, dann schauen wir in den Louvre, das ist das schönste und beste Museum der Welt und Museen und alte Kunst, das kann nicht viel Eintritt kosten. Wieder in die Metro, wieder zum Schalter für Eintrittskarten. 34 Euro für uns zwei, die sind nicht ganz richtig im Oberstübchen und dann das alte Zeug anglotzen, was anno dunnemals gepinselt wurde. Nein. Das ist ja nicht zu glauben, das mache ich nicht mit. Komm, gehen wir was essen, ich bin müde und habe Hunger, aber da fahren wir ins Hotel und kaufen vorher Brot, Wein und Käse ein und essen auf dem Zimmer. Im Supermarkt war zwar alles erschwinglich, aber beim Nachrechnen merkte er, dass es auch teurer war als bei ihnen zuhause. Er hatte endgültig die Faxen dicke. Wir fahren heim, hier wird man nur ausgenommen wie eine Weihnachtsgans und als kulturbeflissener Mensch auch noch verarscht.
Am nächsten Morgen in die Metro zum Bahnhof. Als er sich eine Zeitung kaufen wollte, bemerkte er, dass sein Portmonnaie gestohlen wurde. Und für die Rückfahrt musste er noch Geld drauflegen, weil sie für diesen Zug keine Rückfahrkarte hatten. Der Zug war bumsvoll und sein Blutdruck näherte sich der gefährlichen Toleranzmarke. Scheiss Paris. Zu teuer, zu voll, zu viele Gauner, zu laut, zu dreckig und überhaupt. Nie wieder Paris, dann doch lieber Kulmbach.
Zuhause ruhte er sich erst einmal aus. Dann sagte er, komm wir fahren nach Kulmbach. Das kennen wir, da geht alles seinen geruhsamen Weg. Da ist es billiger und die Gegend ist auch schön.
Und eine Halbe kostet nur 3,50, und der Schweinsbraten mit Knödeln wunderbar. Und alles für 10 Euro. Scheiß Paris. Nie wieder. Egal ob Rom, Madrid, Wien oder Venedig, alles Beutelschneider, das kann mir gestohlen bleiben. Hier ist es eigentlich sehr viel schöner.
So geht es, wenn man sich nicht auskennt und dann alles auf die anderen schiebt. Eine Ecke weiter und vielleicht wäre alles anders gekommen.
Ich zitiere aus meinem Blog vom 11.07.2020
Zu Beginn ein Zitat, das den allgemeinen Gepflogenheiten der Geschichtsschreibung zu denken geben sollte: Der Chef der US-Luftstreitkräfte in Europa, General Spaatz schrieb anlässlich der Invasionsangriffe an seinen Vorgesetzten Eisenhower über St. Lo, welches noch brutaler zerbombt wurde, „Viele tausend Franzosen werden in diesen Operationen getötet werden und viele Städte verwüstet. Ich fühle mich in einer gemeinsamen Verantwortung mit Ihnen und sehe mit Schrecken eine Militäroperation, die Vernichtung und Tod breit in Länder hineinträgt, die nicht unser Feinde sind, insbesondere, wo die aus diesen Bombardements zu erzielenden Resultate noch gar nicht als ein entscheidender Faktor nachgewiesen sind.“
Aus www.paris-blog.org
Das alte Le Havre, einst Frankreichs größter Kaffeehafen, mit großzügigen Boulevards der Belle Epoque und barocken Reederpalais, starb im Zweiten Weltkrieg. 1940 waren die deutschen Truppen in die Stadt einmarschiert und hatten Le Havre zum größten Kriegshafen am Atlantik ausgebaut. 1944 greifen die Alliierten an. 132 Bombenangriffe folgen. Bei den Attacken der Briten werden am 5./6. September 1944 während weniger Stunden 5.000 Menschen getötet und 12.500 Gebäude zerstört. 80.000 Menschen verlieren über Nacht ihr Zuhause.
Zitat aus www. schwarzaufweiß.de von Hilke Maunder, eine der besten Frankreichkennerinnen
Zum Blog
Wir müssen für eine besseres Verstehen der Stadtgeschichte die Zeit noch einmal auf die zerstörerischen Tage im September 1944 zurückdrehen, um die Ursprünge des heutigen Le Havre in einem klareren Licht sehen zu können. 82 Prozent der bebauten Stadtfläche waren durch Flächenbombardierungen abrasiert worden, der Erdboden wurde in eine Trümmerwüste verwandelt und der überwiegende Teil der Menschen sah sich wohnungslos und in allergrößter Angst und Not vor dem, was kommen würde. Zu viele hatten diese Bombennächte mit ihrem Leben bezahlt, weil sie allzu oft nach überlieferten Berichten von den Bombardierung überrascht wurden, als die Tod und Zerstörung bringenden Flugzeugpulks den Himmel verdunkelten. Um einen derartigen himmlischen Unsegen hatten sie wahrlich nicht gebeten, als sie sich entschlossen in der Stadt zu bleiben. Hätte sich irgendein Havrais ausdenken oder voraussehen können, dass ausgerechnet die Briten ohne Rücksicht auf Verluste die Zukunft eines strategischen Masterplans für den Wiederaufbau in der Zukunft ermöglichen würden?
Die französische Bevölkerung wurde als Geißel deutscher Militärterroristen bei der Invasion der Alliierten von keinem der Besatzer geschont, zu groß war die Angst davor, in der Zerstörungswut und der Gnadenlosigkeit der NS-Verteidiger eine Niederlage zu erleiden, die einem Fiasko für alle gleich gekommen wäre. Was in den Generalstäben und den Diplomatentreffen in London und Washington vereinbart wurde, liegt für viele als Dokumentenstapel in den Archiven offen und Militärhistoriker haben im nachhinein ihren Reim aus den Fakten herausgefiltert, indem sie Vergleiche zwischen dem Potential der Besatzer und der Schlagkraft der Invasoren gezogen haben. Eines ist sicher und muss als These zuvorderst beachtet werden: Es ging nicht nur um die Befreiung Europas und der leidenden Menschen aus der Schreckensherrschaft der Nazis, es ging ebenso um die am Boden liegende Weltwirtschaft, um Rohstoffe und um eine weltumspannende, alles andere in den Schatten stellende Rüstungsindustrie.
Politiker und Wirtschaftslenker wussten sehr genau, dass es darum ging, und mühten sich, zu retten, was zu retten war. Gleichzeitig waren sich alle im Klaren, dass es um die geopolitische Hoheit über unsere Erdkugel ging und wie sie von wem in Zukunft am profitabelsten zu dominieren und auszubeuten wäre. Ein vollkommen zerstörtes Europa, das wirtschaftlich in den letzten Zügen lag und die Weltwirtschaft aufs Äußerste belastete, konnte den Interessen der Amerikaner, der Briten oder der Russen nicht ins Konzept passen. Der Morgenthauplan scheiterte nicht zuletzt an denen, die vorausschauend begriffen, wie wichtig der europäische Kontinent im Kanon sämtlicher Kontinente und des Kapitalismus war. Verband sie die gemeinsame Sache auch als Alliierte, die sich unter den widrigsten Umständen zusammengerauft hatten, so war allen Beteiligten klar, dass Europa die Schnittstelle zwischen dem westlichen Marktkapitalismus und dem östlichen Kommunismus mit seinem Dirigismus und einer verstaatlichten Wirtschaft war. Allen war bewusst, dass nach den zwölf Jahren gedungenem Staatsvandalismus deutscher Prägung eine neue Weltordnung geschaffen werden musste. Die Blocktheorie Ostkommunismus gegen Westkapitalismus war die unvermeidliche Folge, auch wenn der Krieg noch ein Jahr dauern sollte.
Während die Westallierten über Frankreich und Italien in Richtung Berlin marschierten, zogen die russischen Heeresverbände nach dem Sieg in Stalingrad 1942/43 unter unglaublich hohen Verlusten an Menschen und Material unaufhaltsam von Osten nach Berlin, in die Hauptstadt der NS-Verbrecher. Diese Endschlacht kannte in ihrer niemals vorher zu sehenden Wucht keine Gnade und zivile Opfer als kalkulierte Kolleteralschäden waren im Preis der Freiheit, der Ordnung und der Menschenwürde stets einberechnet. Le Havre war eingekesselt und musste eingenommen werden und den britischen Oberbefehlshabern in Absprache mit Eisenhowers US-Truppen blieb laut Militärstretategen, die in dieser Zeit die Befehlsgewalt hatten, nichts anderes übrig, als die Stadt, koste es, was es wolle, jeglicher Gegenwehr zu entledigen. Die Bomben erledigten den Rest.
Le Havre lag am Boden, der wichtigste französische Hafen am Kanal und zum Atlantik und einer der wirtschaftlichen Brennpunkte für ein politisch funktionierendes Frankreich, das immerhin als vierter Allierter mit im Boot saß. Zu Recht, denn ohne den unbedingten Willen der französischen Exilregierung unter de Gaulle und vielen anderen exilierten Hoheitsvertretern anderer besetzter Länder, die von London aus operierten, wären die militärischen Entscheidungsschlachten von einigen Zauderern und klammheimlichen Kriegsgewinnlern vielleicht verzögert worden. On vera.
Der 71jährige belgisch stämmige Architekt und Stadtplaner Auguste Perret, der zwischen 1920 und 1954 weltweit Projekte realisierte, wurde von der neuen französischen Regierung beauftragt, einen Wiederaufbauplan für Le Havre zu erstellen. Perret war ein bekannter und ausgewiesener Fachmann und hatte schon in einigen Ländern Europas wie in Frankreich oder Großbritannien als Architekt, Stadtplaner und Bauunternehmer reüssiert. Bauhistoriker ordnen seinen Stil in der Tradition der französischen Rationalisten ein (von Durant über Labrouste, Viollet-Le-Duc, De Baudot, Guadet bis Choisy). Perret war der Avantgardist des armiertem Betons, dessen Ideen und Realisierungen von vielen nach dessen Tod wieder aufgenommen wurden. Man nannte seine Arbeiten zuweilen auch „Poesie in Beton“. Als Städtebauer erregte er Aufsehen, als er 1931 den Palast der Sowjets in Moskau bauen ließ.
In seinem „Atelier Perret“, das er schon in den 40er Jahren gegründet hatte, beschäftigten sich die Mitglieder mit Plänen für den ganzheitlichen Wiederaufbau zerstörter Städte. Mit seinem Planungsstab von 60 Architekten begann er schon 1945 mit der Arbeit. Bis 1954 wurden die meisten Bauten hochgezogen. Aber nicht nur neue Wohnblocks entstanden im neuen Le Havre, die Architekten und Stadtplaner dachten an alles: Einkaufsstraßen, Kulturzentrum, Kirchen, Schulen und öffentliche Gebäude. Perret verfocht die Ansicht „Licht, Luft, Sonne“ und richtete die Gebäude am Sonnenverlauf aus. Die zwangsläufig entstehenden Innenhöfe wurden großzügige Gemeinschaftsgärten und verkamen leider mit der Zeit der zunehmenden Automobilität als Abstellplätze für den Fetisch Personenkraftwagen. Die Baumaterialien, die äußerst rar waren, bestanden aus Sand und den zermahlenen oder zerkleinerten Trümmern der zerstörten Gebäude. Alles wurde pedantisch nach Farben und Materialien geordnet, so dass seine Idee, die Gebäude „lebendiger“ werden zu lassen, möglich wurde.
Vor Beginn der Arbeiten lagen 133 Hektar Trümmerlandschaft brach, was einerseits ein Albtraum hätte werden können, aber für einen Visionär als Traum verstanden wurde, um auf einem so großen Terrain stilistische Ideen und soziale Visionen Wirklichkeit werden zu lassen, wie sie ansonsten kaum ein Städteplaner vorgefunden hätte. Perret, bekannt als Meister der Betonbaukunst, schuf hier mit seinen Sichtbetonbauten Denkmale für die Ewigkeit. Beton, zumal als Sichtflächen wurden damals argwöhnisch beobachtet und genügend Baumeister einer eleganten und elitären Architektur, wollten sich sich mit einer außergewöhnlichen, aber teilweise überlebten Formensprache in den Vordergrund stellen. Über Perrets Stil rümpften viele die Nase. Er agierte nach eigenen Vorstellungen und hielt sich an die Ordnung streng geometrischer Planungsvorgaben. Trotzdem variierte er das neue entsandene Wohnviertel durch unterschiedliche Gebäudehöhen und miteinander korrespondierenden Standflächen.
Das Wohnen in den neuen Gebäuden entwickelte sich für die Havrais zu einem entscheidenden Beitrag ihrer Lebensqualität. Die ca. 100 m² großen Wohnungen wurden mit Kinder- und Schlafzimmer ausgestattet, die zum hofseitigen Bereich gelegen waren. Wohnzimmer oder Arbeitsraum wurden zur Straße hin ausgerichtet. Schmuckstück der Appartements waren die Bäder, deren Großzügigkeit selbst heutige Bedürfnisse übertreffen. Flexible Schiebetüren und Glaseinsätze in den Türen gaben dem Tageslicht die Chance das Wohnungsinnere hell und behaglich zu machen.
Als Stadtzentrum wurde das neue Rathaus mit seinem hohen Turm inmitten des westlichen Parts der Innenstadt auf einem sehr weitläufigen Platz erbaut. Vor dem Krieg lag hier das Zentrum Le Havres. Neben dem überdimensional hohen Kirchturm der Eglise St. Joseph mit seinen 107 Metern Stahlbeton und einem Glasfensterteppich, der einer Vielzahl bunter, aneinandergereihter Luken ähnelt, ragt unweit davon der trotzige Turm des Rathauses als wehrhafter moderner Burgfried aus dem ihn umgebenden Häuserensemble. Perret hielt sich relativ genau an die Standpunkte der wichtigsten Gebäude, die vor dem Krieg das Bild Le Havres prägten und schuf mit einer zukunftsweisenden, großzügigen Staßenstruktur einen urbanen Grundriss, der genügend Platz für alle Lebensräume und einem Mobilitätssystem bot und schon 1954 auf die Zukunft ausgerichtet war.
Die Gesamtfläche des neuen Stadtbildes gleicht einem überdimensionalen Dreieck und wird von drei weiträumigen Straßenzügen begrenzt, die sich durch die gesamte Stadt ziehen. Auch die historischen Hafenbecken blieben bestehen. So wurden Hafen, Innenstadt, Außenbezirke und die Seinemündung am Meer in das Konzept eingebunden.
Aus der Ferne betrachtet, sieht alles streng symmetrisch aus, entfaltet sich aber aus der Nähe als erstaunlich komplexer Raum. Eines der beiden alten Hafenbecken wurde vor einigen Jahren durch den Architekten Jean Nouvell von einem großen Multierlebnisbad flankiert. Weil die Höhe aller Wohnbauten variieren, bilden sie in ihren Proportionen die Silhouette eines stufigen Dächergebirges, das vor allem im Abendlicht eine außerordentlich magische Anziehungskraft ausstrahlt.
Wolfgang Neisser im Juni 22 2020 Felix Faure 222
https://bauwelt.de/dl/731329/10815695_500108bdb3.pdf
Joseph Abram, Le Havre ist Weltkulturerbe, Eine bahnbrechende Entscheidung der UNESCO
https://www.welt.de/reise/staedtereisen/article170392374/Le-Havre-ist-Poesie-in-Beton.html