2023 Alles muss anders werden

Allgemein

ARLES 2019

Athen

Avignon

Berlin

Corona - Folgen

Filmkritik

In the year 2021 on earth

Kultur und Tourismus

Le Havre

London 2023 Slough

Marseille

Palermo und die Manifesta

Riviera 2020

Schweden Stockholm

Sizilien und Palermo

Südwestfrankreich

Venedig 2017

Venedig Biennale 2019

Die Götzenbilder des Finanzkapitalismus und die neuen Walfahrtsorte des internationalen Tourismus

Was sagt der Spruch „Splendid Isolation“ heute ein paar Jahre nach dem Brexit aus; meinen die Briten, dass ihre Situation endlich so splendid ist, dass sich dieses Land, das immer noch ein Königreich ist, endlich in der neuen Isolation so anfühlt, wie es Farrage und Johnson und viele Torys großmäulig angekündigt haben? Wo ist Farrage heute, wo war er, als der Brexit erreicht war? Gestern legte Johnson sein MP (Member of Parliament) nieder. Von großem Bedauern ist in den TV-Nachrichten und im Daily Telegraph, den ich heute wegen der langen Fahrt von Slough nach London gekauft habe, nichts zu spüren, aber vielleicht verstehe ich auch nicht genug von der britischen Innenpolitik, um das beurteilen zu können. Irgendeine bekanntere Abgeordnete mit Namen Pritti Patel spricht von einem Titan, der abtritt, aber Pritti Patel gehört zum Club der Erzkonservativen, lehnt die gleichgeschlechtliche Ehe ab und votiert offen für die Todesstrafe. Sie mandelte sich von Cameron bis Johnson durch die ständig wechselnden Regierungen der ständig neue Prime Minister erzeugende Torypartei, bis ein unsauberer Deal mit Konservativen aus Israel ihrem Treiben ein Ende setzte. Getreu bis in den Tod verhielten sich die beiden Torys Nadine Dorris und Nigel Adams, die ihrem ehemaligen Parteifreund kurz nach dessen Demission folgten. Überall scheinen die Umfragewerten der Labourparty ordentlich gestiegen zu sein, aber dem neuen Parteiführer Keir Starmer werfen die Parteilinken vor, keine eindeutige Haltung zu haben und sich politisch in die Mitte zu bewegen, um meinungsloses Potential den Torys abschöpfen zu können. Wer Labour seit Tony Blair als links bezeichnet hat, muss sich als getäuscht sehen, denn mit Blair fing der Drift zur Mitte an und wenn einige Schreibende die Politik Blairs als links bezeichneten, müssen sie als blind bezeichnet werden oder sie sind einem Münchhausen-Syndrom aufgesessen. Freund Basta Schröder ahmte Blair nach, konnte aber gemeinsam mit den Grünen nicht ganz so populistisch auftreten wie der immer lächelnde Tony, der leider den Fehler begangen hat, mit Bush die Koalition der Guten oder Willigen einzugehen und gemeinsam mit den Amis in Nahost Wüstenschiffbruch erlitt. Mensch kennt sich zu wenig in dem von wenigen Superreichen beherrschten Königreich aus, aber er weiß, dass die horrenden Kosten für die Amtseinführung des ewigen Prinzen bei sehr vielen Briten auf Unverständnis und Wut gestoßen sind, auch wenn viele behaupten, dass dieses Königshaus eine vermittelnde und besänftigende Wirkung auf das britische Volk haben würde. Mit großer Fremdscham denke ich an den Königshausversteher Rolf Seelmann-Eggebert, der die deutschen Zuschauern während der Inthronisierung mit haarsträubenden Schmonzetten aus dem Buckingham Palace fütterte, die selbst Harry Potter in den Freitod getrieben hätte. Mehr als 100 Millionen Pfunde sollen die Zeremonien gekostet haben, die letztlich beim Steuerzahler hängenbleiben werden. Charles Erbe von der verstorbenen Mammi Lisbett kann auch wegen der unzähligen Immobilien, die den Windsors zu eigen sind, nicht genau beziffert werden, aber Erbschaftssteuern zahlt ein König nicht, das würde selbst bei Königs zu weit gehen. Ganz schlaue Finanzexperten haben aber errechnet, dass die Fernsehrechte, der Verkauf von Devotionalien und anderer Kitsch und das in England verbleibende Geld der über 100.000 Ausländer, die schließlich essen, trinken und tube fahren müssen, viel mehr einbringen würde, als die Staatskasse vorher ausgegeben habe. Aber dieses Geld fließt keineswegs zum Steuerzahler zurück, sondern wird in den im Sonnenlicht strahlenden Finanztürmen der Londoner City den dort zockenden Bankern viel Freude bereiten. Wenn ich mich nicht andauernd im digitalen Blätterwald herumgetrieben hätte, würde ich wenig bis nichts über die Zustände im United Kingdom herausgefunden haben, aber am meisten brachten meine hin- und herwieselnden Augen ein, die mit dem Fotografenblick die Menschen von der Sohle bis zum Scheitel taxierten und auch bei allen inhouse-Besuchen wertvolles Futter für meinen Denkapparat lieferten. Alles, was ich tat, geschah sehr diskret und ich habe weder gegafft, noch voyeuristisches Gehabe an den Tag gelegt, um das klarzustellen. Das Beobachten der Menschen und Geschehnisse kann dem geübten Seher mehr helfen als alle analytischen Journaillen des Spiegels, der Zeit oder der SZ.

Die City of London mit der Freakarchitektur

Der Weg zum UK und seinen zahlreichen Dilemmata zurückzukehren, geht über den Fußball, denn in keinem anderen Land wird der Fußball dermaßen obszön kapitalistisch verkauft wie in der englischen Premier League. Gibt es überhaupt noch einen Verein, der nicht von irgendwelchen Superreichen aus Nahost, Russland oder anderswo außerhalb des Landes mit Millionen Pfund aufgekauft wurde? Der Ausverkauf des Landes macht vor nichts Halt und um herauszufinden, woran das liegt, muss zunächst der Finanzplatz London und die Macht der Reichen in UK durchleuchtet werden. Die City of London, damit sind nicht unbedingt Big Ben, Westminster Abbey, the Tower oder St. Paul´s Cathedral gemeint, sondern die Ansammlung höchster Bauwerke aus Beton, Stahl und Glas, die in ästhetisch fragwürdiger Bauart auf einem oder  höchstens zwei Quadratkilometern zwar im Hintergrund der alt ehrwürdigen Bauwerke eingepflanzt wurden, aber dafür alles überragen, was ansonsten London ist oder sein möchte. Vor allem Norman Foster, einer aus der Riege der Architekturgiganten dieser Welt, war maßgeblich an der Umgestaltung der Stadt beteiligt, aber alle anderen der weltweit verdächtigen Baumeister strebten ebenso Teilhabe an und nach und nach versammelten sich die Creme de la Creme der Hochhäuslebauer in der britischen Hauptstadt. Das Großartige und ins Staunen versetzende ist das Markenzeichen all dieser Architekten und damit auch der brachiale Gewaltakt zwischen dem Kleinen, also der seit Jahrhunderten gewachsenen Stadt und dem Überdimensionalen der neuen, in den Himmel wachsenden blank geputzten Gebäude, die einer Oase der Macht und der damit verbundenen Überwältigung gleich, alles um sie herum zu einem Wüstenbrei werden lässt. Damit nicht genug, keinesfalls sollte ein neues Manhattan entstehen, obwohl das ohnehin niemals erreicht werden würde, sondern eine architektonische Freakshow in der Formensprache des im Prinzip Unmöglichen. Gurke, in sich verdreht, ein alles überragender Splitter, ein überdimensionaler Telefonhörer, eine Käsereibe, um nur einige Formen der nebeneinander konkurrierenden Superbauten bei ihren Spitznamen zu nennen. Wären diese Formen klein, wie die Formen, die nachgeahmt wurden, würden die meisten Menschen sie wahrscheinlich übersehen oder als banal erklären. Das Große in der Kunst ist eben immer überwältigend, ob es sich um Gerhard Richters Abstraktionen handelt oder die weißen Hände von Lorenzo Quinn, die in Venedig in die Höhe ragen. Je größer, desto gewaltiger, desto publikumswirksamer. Die architektonische Gestaltung der Türme sollte aber keineswegs an Angst einflößende Bauwerke der Macht erinnern, sondern davon ablenken, dass in diesen Turmbauten zu London die eigentliche Macht des Königreiches herrschte. Mit der absonderlichen Formgestaltung gelang den Architekten der Clou, ein Panoptikum des Staunens zu erschaffen und die Hochhausbauten als riesige Skulpturen darzustellen. Kaum jemand denkt beim Anblick der kuriosen Bauten daran, dass hinter der Form die Funktion steht, Geld in Macht und Macht in Geld zu verwandeln. Die Täuschung scheint gelungen. Frank Gehry, der amerikanische Architekt des ästhetischen Dekonstruktivismus war einer der Ersten, der Architektur in überdimensionale Skulpturen verwandelte und wer das in Londons City nicht findet, sollte nach Paris in die Nähe des Bois de Boulogne (Fondation Vuiton) oder nach Guggenheim Bilbao (Museum) fahren. By the way, Gehrys Bauten gibt es überall dort, wo das Extravagante und vor allem das Auffällige von den dienst-habenden Kommunalpolitikern und Cheflobbiyten in allen Rathäusern und Parlamenten durchaus gewollt wird. Vielleicht wurde es in einigen Städten sogar über Jahrzehnte ersehnt, um wohlhabende Tourismus anzulocken, die mit ihrem Kommen die Kassen füllen würden. In Deutschland ist das Museum Marta in Herford ein vielsagendes Beispiel, wie die windschief aussehenden Häuserblöcke im Düsseldorfer Hafen. Merkwürdigerweise oder schon im Ausschlussverfahren hängengeblieben, sucht man in der Londoner City Frank Gehry vergeblich. War den britischen Stadtplanern Gehrys Stil vielleicht zu überkandidelt und nicht britishlike genug? Gehry´s Skulpturbauweise gibt es auch in London, aber outside der City. Es ist die Battersea Power Station am südlichen Themse Ufer, für Londoner Verhältnisse weitab der City-Buildings. Zaha Hadid ist auch nicht in den pitches weitergekommen, dafür zeichnet sie für das Galaxy in Soho verantwortlich, dass ihrem Stil alle Ehre macht. Hadids Nachfolger, der deutsche Architekt Patrick Schumacher verstieg sich sogar mit der Aussage, wie er sich das Bauen der Zukunft in London vorstellen würde, indem er meinte, dass es am besten wäre, 80% des Hydeparks zu zubetonieren und dann darauf noch mehr schöne neue Welt zu bauen. Seiner Ansicht nach, wird der Hyde Park ohnehin nicht genügend genutzt. Libby Purves schrieb in der Times „Dass dieser herzlose Bandit sogar vorschlug, Sozialwohnungen in zentralen Gebieten abzuschaffen, weil sie keinen Mehrwert bringen würden, sei mehr als unverschämt. Stattdessen sollten Gebäude für reiche Ausländer und finanzstarke Briten geschaffen werden, vor allem für diejenigen, die in der City arbeiten und somit viel kürzere Wege in ihre Büros hätten. Dass es ausgerechnet ein Kraut ist, der diesen sozialrassistischen Unsinn verzapft, zeugt angesichts der neueren und älteren Geschichte von niederigschwelliger Sensibilität.

St. Pancras bei King´s Cross

Der Umbau der Stadt in eine zerfaserte Höhenrauschcity begann mit der von vielen immer noch bewunderten Margaret Thatcher, die mit eindeutigen Gesetzen den Investoren und Finanzmogulen Tor und Tür öffnete, damit diese schalten und walten konnten, wie es sich gierige Kapital- und Immobilienhaie vorstellen. Als sie bissig forderte, I want my money back, dachte sie vielleicht schon daran, dieses Geld in den Aufbau einer Londoner City der Zukunft zu stecken. Zunächst aber erlaubte die Regierung Thatcher, die Halbinsel Isle of Dogs zu bebauen, eine Freifläche oder Brache im Osten Londons. Mit dieser Zusage entstand die gewollte Entfesselung der boomenden Finanzindustrie und wird als Urknall des Bankenwesens in UK bezeichnet. Thatcher reformierte das Bankwesen und den Aktienhandel, indem sie alle Vorschriften im Geldtransfer soweit lockerte, dass fast jeder Broker werden konnte und der Aktienhandel zu boomen begann. Der Umbau der Londoner City ging mit Tony Blairs New Labour weiter und knüpfte im Kern nahtlos an Thatchers rigide Wirtschaftspolitik an. Deren destruktives Werk kam den Plänen von New Labour entgegen, auch wenn die Labours immer das Gegenteil behaupteten. In dieser Hinsicht ist anzumerken, dass die Labourpartei von der klassischen Malocherkampftruppe durch Thatchers Zerschlagung der Gewerkschaften und dem Niedergang der traditionellen Industrieproduktion durch Verlagerung in die dritte Welt stark angeschlagen war. Andererseits ersparte ihnen das Erbe der Eisernen Lady, selbst einen sozialen Kahlschlag vorzunehmen, wie es später Schröder mit Hartz IV durchsetzte. Die Labourparty verwandelte sich ideologisch zwangsläufig in eine Partei der Mitte, weil ihre eigenen  Versprechungen, für jeden Menschen Bildung, Wohlstand und Erfolg schaffen zu wollen, inzwischen überall Früchte trug und mit dem charismatischen Anführer Tony Blair für viele Konservative wählbar wurde. Konservative, die früher in Labour die Teufel in Menschengestalt vermuteten und einen großen Bogen um jedes Arbeiterviertel machten.
Aber wie konnte so viel Raum geschaffen werden, um überall in London den Architekturhype der immer größer, im besser, immer außergewöhnlicheren Bauvorhaben Wirklichkeit werden zu lassen? Die Antwort lautet „Aggressive Gentrifizierung“ und Kahlschlag in allen Wohngebieten, die nichts mehr einbrachten, deren Häuser in sich zerbröckelten oder allmählich zerfielen. Nach der Vertreibung der Menschen in die Randgebiete wurde die alten Viertel dem Erdboden gleich gemacht, um den kapitalkräftigen Phoenixen aus allen Erdteilen die Reste des Nichts zu überlassen. Ein Nichts, das mehr wert war, als alles andere in der Stadt: Privat zu finanzierender Baugrund. Nicht zu vergessen sind 260.000 Arbeiter, die, wie auch immer sie entlohnt werden, in mehreren Schichten die Maloche schaffen mussten und weiterhin gebraucht werden, um kommende Vorhaben Stein für Stein, Stahlträger für Stahlträger in die Höhen der Architektenträume zu bewegen. Wer noch wie ich in 70er Jahren des letzten Jahrhunderts London als linker Hippie  „Swinging London“ besuchte, sah in einigen Stadtteilen, wie die dort nicht ansässigen Eigentümer viele ihrer Häuser, die sie seit Ewigkeiten besaßen, bewusst verkommen ließen, ohne sich um die Belange ihrer Mieter zu kümmern. Das Spekulantentum boomte und die superreichen Investoren aus aller Welt griffen gierig zu. Die meisten Wohnungen erfüllten nach meinen eigenen Erinnerungen in keiner Weise den Standard des für menschliche Wesen Bewohnbaren. In den siebziger Jahren kann ich mich nicht an irgendwelche Hochhäuser erinnern und stand staunend vor Big Ben, der Westminster Kathedrale, der Trafalgarsäule und der Backsteingotikkathedrale St. Pancras. Wir tranken Pints, hörten die Stones und die Beatles, Blind Faces, die Kinks oder Animals und bestellten beim Zuruf „Last Order“ noch einmal ein Dutzend Pints, die wir in Windeseile in unsere Bäuche fließen ließen.

Little Venice bei Paddington Station

Kein Weg führt an den Investoren und den Immobilienhaien vorbei, wenn man als Kontinentaleuropäer nach dem Brexit diese Stadt verstehen will. Wer noch nie in London war oder nur die angesehenen Museen, Kirchen und andere Bauwerke kannte, ist beim Anblick der bombastischen Architekturverwandlung einfach nur platt. Viele Besucher können sich nicht genug an den Eigenartigkeiten der Türme ergötzen. Es geht um 236 Wolkenkratzer, wobei das Kratzen an den Wolken vielfach als übertrieben zu bewerten ist. Aber „The Shard“ gehört mit 309,6 Meter tatsächlich zu den Skyscrapern. Ein Fünftel aller neuen Hochhäuser misst 160 und mehr Meter und an dieser Stelle müssen endlich einmal die Kritiker und Bewahrer zu Wort kommen, deren Dasein und Wirken durch den nicht mehr zu bremsenden Bauboom in den Schatten gestellt wurde. Die geballte Macht der sogenannten Entwickler und Investoren drängte sie in den Hintergrund, als aus dem flüssig gewordenen und zu investierenden Reichtum der Krösusse aus Nah- oder Fernost immer neue Bauvorhaben genehmigt und realisiert wurden. Einer von ihnen ist Nigel Barker von der Denkmalschutzbehörde und ein anderer heißt Peter Murray von der Organisation New London Architecture. Diese beiden stellten öffentlich den Sinn des Hochhauswildwuchses in Frage und kämpften seitdem dafür, dass eine homogene Lösung zwischen „old fashioned“ und „pretty new“ für die Bürger anzustreben sei. Unterstützt wurden sie von vielen Künstlern, Schriftstellern, Architekten und Initiativen, die London schon als neues Manhattan oder Singapur sahen. Ein offener Brief sorgte für erste Aufregungen, aber man muss heute leider feststellen, dass trotz aller Bemühungen die schlimmsten Auswüchse nicht verhindert werden konnten. Barker sprach davon, dass die Entwickler und aggressiven Investoren ihn und seine Behörde als „Talibane des Denkmalschutzes“ beschimpften und die Bewegung argumentativ als „Gegner des Fortschritts“ verunglimpften. Spätestens nach dem verheerenden Brand des Grenfell Towers, einem Sozialbau am Rande Kensingtons, ging vielen Verantwortlichen in den Rathäusern und Baubehörden ein sehr helles Licht auf. Bei dem von einem defekten Kühlschrank ausgelösten Brand kamen 79 Menschen ums Leben und wenn die Feuerwehr nicht versagt hätte, wären sicherlich mehr Leben gerettet worden. Allerdings war das gesamte Gebäude seit Jahrzehnten eine Zeitbombe. Die Sanierung des Gebäudes, um die aktuellen Sicherheitsstandards erfüllen zu können, scheiterte daran, dass billiges Dämmmaterial benutzt wurde, welches eine viel geringere Feuerfestigkeit aufwies, als es geplant war. Die eigentlich banale Brandursache fand in der Schlampigkeit der Bau- und Sicherheitsvorschriften die Nahrung, die für den Großbrand ausreichte. Der Grenfell Tower mit 24 Stockwerken ist nicht die einzige soziale Wohnungseinrichtung in London, es soll hunderte derartiger Tower geben und überall geht nun die große Angst um, dass sich so eine Tragödie wiederholen könne. Gerade bei den sozial Schwachen vergessen die Geldsäcke vor lauter Gier, dass es sich um Menschen handelt. Jemand sagte, dass die Londoner Regierung Russisch Roulette mit den Menschen spielen würde. Angesichts des großen Hype, der um die „Freakarchitektur“ gemacht wurde, tun sich Abgründe in London auf, die bislang keiner sehen wollte. Am 14. Juni jährte sich das Unglück und noch ist unklar, welche Entschädigungen die Überlebenden und Angehörigen tatsächlich zu erwarten haben. Unter Maggie Thatcher wurde die Bauvorschriften erheblich gelockert und sie führte das „Right to Buy“ ein, das den Kauf öffentlichen Wohnraums erleichterte. In der Folge wurden viele Wohnblocks abgerissen und mit teuren Spekulationsobjekten übersät. Die Folge war auch, dass immer weniger neue Sozialwohnungen entstanden.
Bis dato war mir immer noch nicht klar, was in den riesigen Türmen vor sich geht, wer da wirkt oder wohnt und ob diese Bauwerke einen gesellschaftlich wertvollen Nutzen darstellen? Am Beispiel „The Shard“ kann ich ungefähr beschreiben, was in diesem Gebäude abläuft: International agierende Firmen haben ganze Etagen gekauft oder gemietet, Rechtsanwälte, PR-Agenturen, Lobbyisten oder Banken mieteten oder kauften große Büroraumflächen. Es gibt einige Restaurants und das 5-Sterne-Hotel Shangri-La residiert sort. Darüber hinaus wurden zehn der exklusivsten und luxuriösesten Wohnungen und Apartments eingerichtet, die bis zu 50 Millionen Dollar kosten sollen. Kleinere sollen schon für 30 Millionen zu erstehen sein. Bis 2021, so berichtete der Guardian, soll kein einziges dieser Trauminseln des absoluten Reichtums und Bling Bling verkauft worden sein.
In einem britischen Blog fand ich die Meldung, dass der Bürgermeister von London Kahn nach nicht repräsentativen Aussagen über den großen Leerstand von Wohnungen informiert wurde. Er ordnete eine Überprüfung an, indem er mit Hilfe von Stromzählern die Daten aller Wohnhäuser abfragte und herausfand, dass mindestens 21.000 Wohnungen ganz oder nur sehr selten bewohnt waren. In den Medien kursierte lange Zeit das unbestätigte Gerücht, dass viele Wohnungen rund um den Hydepark, von denen bekannt war, dass sie in Besitz russischer Oligarchen, chinesischer, katarischer oder saudi-arabischer Milliardäre waren, nahezu ganzjährig nicht bewohnt wurden. Eine weitere Besonderheit aus dem Who is Who der Superreichen sind die sogenannten Iceberg-Houses. Villen, die streng denkmalgeschützt sind und an denen keine äußeren Veränderungen vorgenommen werden dürfen, weichen in die Tiefe aus, schachten unterhalb der Keller weiter aus und legten neue Geschosse unterirdisch an, in denen Schwimmbäder, Spa-Räume, Tennisplätze und Garagen für teure Automarken eingerichtet wurden. Es soll über 7.500 derartiger Iceberghäuser in London geben, insbesondere in Chelsea und South Kensington. Die Namen wird kaum jemand kennen, aber der superreiche Kunsttitan Damien Hirst und sein Kollege aus der Musikbranche Andrew Lloyd Webber gehören zu denjenigen, die sich in die Tiefe vergraben haben.

Mleczkos Café in Slough

Als ich mit dem 27er Bus von Camden Town nach Hammersmith fuhr, sah ich überall frisch entstandene Baustellen. Die Ausschachtungen waren gerade erst begonnen worden. Mehrere Krähne standen bereits und die Containerbüros der Bauleitung waren ebenfalls fix und fertig aufgebaut. Rund um Paddington gab es ebenso mehrere neue Großbaustellen.  Wenn in Camden ein zwei Zimmer Apartment schon 2300 Pfund kostet, was kosten Wohnungen, wenn es sie überhaupt gibt oder für einen normal verdienenden Londoner angeboten werden würden im Umfeld der City?
Als ich Camden nach Secondhand-Läden durchstreifte, fand ich mindestens drei Shops, die von caritativen Einrichtungen betreut wurden, aber dermaßen nach Motten stanken, dass ich rückwärts wieder rausging. Der Wunsch irgendeinen Militärblouson zu erstehen, wich der Angst, mottig vergiftet zu werden. Mein Eindruck sagte mir, dass es nicht unbedingt der Stadtteil ist, in dem ich 2300 Pfund für eine Wohnung ausgeben würde, wenn ein derartiges Apartment überhaupt den Ansprüchen eines normal verdienenden Menschen gerecht werden würde oder könnte. In einer durchschnittlichen Kneipe, die ich auch nicht als originären Pub bezeichnen würde und die nicht sehr attraktiv eingerichtet war, bezahlte ich für ein Pint Lager 6 Pfund. In der Nähe der Saatchi Gallery in Chelsea habe ich für ein ähnliches Gesöff gleich 7,50 Pfund auf den Tisch gelegt. Damit will ich nur ein Beispiel geben, wie teuer in der City zwischen Tower, Westminster, Chelsea und Kensington alles ist. Zusätzlich bezweifle ich, dass die dort angestellten Waiter und Waitresses ordentlich entlohnt werden, was ich aber leider nicht durch persönliche Fragen überprüfen konnte.
In der tube in Richtung Ealing Broadway kann Mensch, je näher der Stadtrand Londons kommt, die Modeparade der Primark-Gekleideten sehen, die am Samstag zusätzlich vollgestopfte braune Tüten des Billigen Jakobs der Kleidungsindustrie in die Vorstädte schleppen. Zurück in Slough war ich froh dem Metropolgetümmel entgangen zu sein und versorgte mich bei Mleczko mit zwei Bärlauchwürsten, die ich mir später im Wasserbad erhitzte.

Nachrichten habe ich ohnehin selten im TV geschaut, weil der Fernseher im Apartment zwar riesig war, aber nur Albernheiten, Horror, Menschenverachtung oder drittklassige Filme zeigte. Da schalte ich die Kiste gar nicht erst an. Selbst das Manchesterspiel Samstag Abend konnte ich nicht sehen, weil im britischen TV kein einziger Kanal zu finden war, wo ich Haaland, de Bruyne und Gündogan hätte siegen sehen können oder auch nicht. Offensichtlich war es ein Glückssieg, denn Mailand hätte laut Berichterstattern aus der Fußballwelt ebenso viele Chancen nutzen können, scheiterte aber immer wieder an Torwart Ederson. Egal nun sind die gut bezahlten Angestellten des Scheichs Winner der Champions League, die Millionen, die allein in Haaland investiert wurden, scheinen sich gelohnt zu haben, auch wenn der Norweger überwiegend blass geblieben sein soll. Gleich drei ehemalige Dortmunder bestimmten das Spiel, Akanji, Gündogan und Haaland, ein Schweizer, ein Deutscher und ein Norweger. Somit hat die Fußballwelt erst einmal Ruhe und das Millionenkarusell dreht sich schon wieder, um das Füßchen wechsle dich Spiel am Laufen zu halten.
Da ich nichts sehen konnte, gab mir ein einziger lauter Schrei aus vielen Kehlen den Hinweis, dass Man City auf dem besten Weg zum Sieg herumdribbelte.
Der nächste Schrei, der allerdings stumm blieb, steckt immer noch in meiner Kehle, nachdem wir anderthalb Stunden im Airbus A319 sitzen mussten und nach insgesamt mehr als drei Stunden Verspätung in die Lüfte schwebten. In Düsseldorf gab es um 0 Uhr keinen Anschluss mehr, also ahmten wir the rich people nach und fuhren per Taxi nach Köln.